Über die Nebelberge weit, zu Höhlen tief aus alter Zeit …

Durch eine sehenswerte Fotostrecke bei National Geographic über die größte Höhle der Welt (zugehöriger Artikel hier; und auch einige dieser älteren Aufnahmen aus einer anderen Höhle hätte man vermutlich eher in einem Comic als in der wirklichen Welt erwartet) wurde mein Faible für Höhlengeschichten wachgerufen. Eine Erkundungstour durch die Regale hat nun ein paar erste Ergebnisse zur Unterhöhlung der Fantasy zutage gefördert.

Als Schauplatz hat die Höhle eine lange Tradition, nicht nur für Autoren der Phantastik, die immer wieder Hohlwelt-Szenarien erkunden – vielleicht nach wie vor am populärsten, wenn Jules Verne seine Protagonisten durch den Vulkan auf eine Reise zum Mittelpunkt der Erde schickt.
Höhlen sind in den meisten Kulturen Bestandteil der mythischen Geographie, sie bieten Raum für Allegorien (und nicht zu vergessen Gleichnisse und Malereien), stehen für Ursprünge und Endpunkte. In der griechischen Mythologie ist das Totenreich des Hades eine Unterwelt, und auch in vielen anderen Kulturen wird die Welt der Toten tendentiell in der Tiefe verortet.
In der heroisierenden Dichtung hat sich die Höhle spätestens im Mittelalter als Ort etabliert, an dem man dem Bösen in Form von Riesen, Drachen oder Zwergen begegnet, die zur Befreiung Gefangener und Erlangung von Schätzen erschlagen werden dürfen. Diese ruhmreiche Tradition wurde von der heroischen Fantasy schnurstracks aufgegriffen (dank Tolkien allerdings meist mit Seitenwechsel der Zwerge) und ist in darauf basierenden Rollenspielen inzwischen längst Klischee: Kaum eine RPG-Welt ist nicht von weitläufigen Kavernen durchzogen.
Auch die rollenspielnahe Literatur bedient sich gerne des “klassischen” Höhlenabenteuers (hinein oder hindurch, unterwegs Monster schnetzeln und Schätze abgreifen), manchmal öde-ideenlos wie Richard Schwartz im zweiten Askir-Band, manchmal surreal-metaphorisch wie bei Tobias O. Meißners Mammut-Reihe.
R. A. Salvatores Romane aus der RPG-Welt der Vergessenen Reiche um den beliebten Dunkelelfen Drizzt Do’Urden (gerade wieder neu als Die Dunkelelfen erschienen und wie auf einer Masernparty mit dem Völkerroman-Virus infiziert) siedeln gleich eine ganze erzböse Kultur in der Unterwelt an, in der sich der gutherzige Titelheld als integrationsunwilliger Querulant zeigt. Wenn man allerdings dem Geschmack an (jugendfreiem) Hack & Slay entwachsen ist, ist der Dunkelelf als Höhlenführer eher nicht die erste Wahl, spätestens nach eineinhalb Bänden wird es mit ihm eintönig.

Dunkle Höhlenwelten ziehen offenbar naturgemäß allerlei  Höhlengezücht an – sie sind der Ort, an dem das Böse seine Pläne aushecken und aus diversen Schlünden heraus die Welt überrennen kann. Wenn dem Helden eine Höhlendurchquerung bevorsteht, wird die Wanderung durch finstere Gänge nicht selten von einer Konfrontation mit den finsteren Winkeln seiner Seele begleitet – das Überwinden von Höhlen ist eine Bewährungsprobe, manchmal auch für den Leser. Hand aufs Herz: Wem hat es wirklich Spaß gemacht, Simon Mondkalb in Tad Williams’ Drachenbeinthron knapp 20 Seiten lang durch das Labyrinth unter dem Hochhorst zu begleiten? (Nur 20 Seiten?! Aber Simon darf im Verlauf seiner Abenteuer immerhin noch zwei weitere Male in der ausgedehnten Unterwelt von Osten Ard herumirren.)

Höhlen sind Orte, an denen Altes überlebt, vom Dinosaurier (Verne) über ins Reich der Mythen verfrachtete Dämonen (Jeff Long) bis hin zum Balrog (Tolkien). Tolkien, von dem auch das Zitat in der Überschrift dieses Beitrags stammt, ist ohnehin ein Meister darin, das Höhlenabenteuer der Heldendichtung für die Fantasy umzumünzen, und hat damit auch (gern nachgeahmte) Standards gesetzt. Keines seiner Hauptwerke ist eine höhlenfreie Zone, und in Nargothrond im Silmarillion oder in Moria im Herrn der Ringe haben sich des Öfteren die Guten verschanzt, wenngleich meist mit fatalem Ausgang.
Tolkiens Höhlen sind glitzernde Grotten oder düstere Ruinen, in denen der Schein von Lampen und Fackeln den monumentalen Ruhm vergangener Zivilisation beleuchtet, während sich abseits des Lichts längst das Böse eingenistet hat.

Altes und Vergessenes hat auch in Sean Russells Reich unter den Hügeln überdauert, man begleitet die Charaktere in die bedrohliche Enge und Dunkelheit einer Unterwelt, die angeblich die Geheimnisse der Magier birgt. Die eindringliche Beschreibung der Höhlenexpedition und der emotionalen Belastung bei einem Abenteuer unter der Erde ist überzeugend genug, um auch erfahrene Höhlenwanderer zu begeistern. Eine Übersetzung der Fortsetzung (The Compass of the Soul) ist leider nie erschienen.

Die Faszination des Höhlensettings entspringt zum guten Teil dem Spannungsfeld zwischen dem heimeligen  Rückzugsort, der Schutz bietet, und dem Gedanken, daß etwas in der Finsternis lauern und daraus hervorkriechen könnte – es läßt sich nur schwer vorhersagen, ob in einer Höhle nun ein Eremit oder ein wilder Bär haust. Materielle und immaterielle Schätze locken, klaustrophobische Enge und Lichtlosigkeit schrecken. Erzählerisch ist dieses Thema ausgesprochen ergiebig, und wer sich davon überzeugen möchte, wie man daraus (Spannungs-)Kapital schlägt, sollte unbedingt die ersten Kapitel von Jeff Longs Im Abgrund lesen, das im späteren Verlauf zwar konventionellere Thriller-Pfade beschreitet, aber mit seiner ausgearbeiteten Höhlenwelt und -ökologie und dem faszinierenden Einstieg (oder vielmehr Abstieg) Maßstäbe setzt.
Ein wahres Meisterstück der originell und ideenreich entwickelten Höhlenweltfantasy ist Chris Woodings Welt aus Stein, das aus dem Setting viel mehr herausholt als nur Gänge, Monster und Finsternis, und teils sehr mondäne Höhlenkulturen beschreibt, die man in der entfernteren Nachbarschaft von Miévilles Bas-Lag verorten könnte. Außerdem lesenswert wegen der ungewöhnlichen Erzählstruktur!

Deutsche Autoren haben sich mit mehr oder minder autarken Höhlenwelten eher selten mit Ruhm bekleckert. Harald Evers’ programmatisch benannte Höhlenwelt-Saga hat in einer Zeit, in der deutsche Fantasy erst langsam Regalplätze erobert hat, eine überzeugte Fan-Basis gewonnen. Im Vergleich zu den oben erwähnten Werken hat die Reihe allerdings nicht viel höhlenspezifische Weltschöpfung zu bieten und kann nicht halten, was die auffälligen Cover von Hans-Werner Sahm versprechen. Wegen des unerwarteten Todes des Autors wurde die Höhlenwelt-Saga niemals ganz vollendet.
Wolfgang Hohlbein hat in Unterland im Rahmen seiner Phantastischen Geschichten für junge Leser ein Höhlensystem erschlossen, das über städtische Katakomben erreichbar ist und einer Menschengruppe seit Jahrhunderten Zuflucht bietet; die Höhlen dienen hier als exotischer Schauplatz für die üblichen Action-Zutaten von Hohlbeins Jugendbüchern.
Auch die Zwergen-Völkerromane deutscher Autoren bestechen nicht unbedingt durch das Ausschöpfen der Potentiale, die ihre gern genutzten Höhlensettings zu bieten hätten.

Wer nicht gleich ein riesiges Höhlensystem besuchen will, sondern mit einer konventionell-kleinen Höhle Vorlieb nimmt, begegnet womöglich Gestalten, die die Höhle als Ort der Isolation schätzen, um ein Leben abseits der Gesellschaft zu führen. Individuen nabeln sich dort ab und vollziehen ihre Übergangsriten (wie Birk und Ronja in Ronja Räubertochter, die den meisten mit Astrid Lindgren aufgewachsenen Fantasylesern ein Begriff sein dürfte) oder Eremiten ziehen ein und müssen oder können ihrem mit der Gemeinschaft nicht kompatiblen Lebensstil nachgehen.

In postapokalyptischen Szenarien sind Höhlen (und nicht nur künstliche Höhlen wie bei den Fallout-Spielen) ein möglicher Rückzugsort für Überlebende, die aus einer feindlichen Umwelt flüchten müssen. Eine besonders intensive Umsetzung dieses Themas – oder dessen, was nach langer Zeit daraus wird – hat George R. R. Martin mit der Kurzgeschichte Dark, Dark Were the Tunnels geliefert (u.a. in der ohnehin sehr empfehlenswerten Anthologie Wastelands; dt. Dunkel, dunkel waren die Tunnel in der Sammlung Die zweite Stufe der Einsamkeit). Wer einen klassischeren Vorgänger von Martins Geschichte lesen möchte, sollte sich nach einer Ausgabe von Dunkles Universum umschauen, in dem Daniel F. Galouye beschreibt, wie sich die Menschheit nach einem Weltkrieg an ein Leben in der Dunkelheit unter der Erde angepaßt hat, in dem Licht nur noch als Erinnerung existiert.

Diese Auswahl bietet dem ambitionierten Sessel-Speläologen hoffentlich einige Ideen für neue Touren und darf natürlich jederzeit ergänzt werden. Stirnlampe und Seil nicht vergessen!

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  • Adams, John Joseph (Hg.): Wastelands (Neuauflage USA 2007), ISBN 978-1-597-80105-8
  • Evers, Harald: Die Bruderschaft von Yoor (Höhlenwelt-Saga 1, D 2001), ISBN 3453178971
  • Galouye, Daniel F.: Dunkles Universum (Dark Universe, USA 1961)
  • Hohlbein, Wolfgang und Heike: Unterland (D 1992), ISBN 3-453-19926-x
  • Lindgren, Astrid: Ronja Räubertochter (Ronja Rövardotter, S 1991), ISBN 3789129402
  • Long, Jeff: Im Abgrund (The Descent, USA 1999), ISBN 3-442-35619-9
  • Martin, George R.R.: Die zweite Stufe der Einsamkeit (D 1982)
  • Meißner, Tobias O.: Das vergessene Zepter (D 2006) ISBN 3-492-26623-1
  • Russell, Sean: Das Reich unter den Hügeln (Beneath the Vaulted Hills, USA 1997), ISBN 3-548-25160-9
  • Russell, Sean: The Compass of the Soul (USA 1998), ISBN 978-0-886-77792-0
  • Salvatore, R.A.: Die Dunkelelfen (auch als: Der dritte Sohn/Im Reich der Spinne, Original: Homeland, USA 1990) ISBN 978-3-442-26754-5
  • Schwartz, Richard: Die zweite Legion (D 2007), ISBN 978-3-492-26629-1
  • Tolkien, J.R.R.: Der Herr der Ringe, Bd.1 Die Gefährten (The Fellowship of the Ring: being the first part of The Lord of the Rings, UK 1954), ISBN: 978-3-608-95536-1
  • Tolkien, J.R.R.: Der Hobbit (The Hobbit or There and Back Again, UK 1937), ISBN 978-3-608-93800-5
  • Tolkien, J.R.R.: Das Silmarillion (The Silmarillion, UK 1977), ISBN 3-608-93245-3
  • Verne, Jules: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde (Voyage au centre de la terre, F 1864), ISBN 978-3-423-13882-6
  • Williams, Tad: Der Drachenbeinthron (The Dragonbone Chair, USA  1988) 3-596-13073-5
  • Wooding, Chris: Welt aus Stein (The Fade, UK 2007), ISBN  978-3-404-20599-8

5 Kommentare zu Über die Nebelberge weit, zu Höhlen tief aus alter Zeit …

  1. Colophonius sagt:

    Die Bildstrecke der National Geographic hat mich zutiefst beeindruckt, als diese damals online gestellt wurde. Was könnte die Phantasie mehr beflügeln als ein Ort, der selbst aus der Phantasie entsprungen zu sein scheint?!
    Deshalb hat mich dieser Blogpost mit seinen vielen Anregungen wirklich gefreut! Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich das Höhlenmotiv interpretierbar ist. Als alte Archäologiebegeisterte begeistert mich das Thema sehr und verfolgt mich schon seit meiner Jugend. “Mit Jeans in die Steinzeit” war wohl meiner erster Ausflug in eine literarische Höhlenwelt zu Schulzeiten, und seitdem kehre ich immer gern zurück. Es muss ja nicht gleich Moria sein, denn wir wissen ja: die Zwerge haben zu gierig und zu tief geschürft…

  2. Pogopuschel sagt:

    Ein toller Artikel. Seit ich das erste Mal als Kind “Reise zum Mittelpunkt der Erde” gesehen habe, bin ich von Höhlen und den Geheimnissen die sie verbergen könnten fasziniert.
    Erwähnenswert ist auch noch “Rumo – und die Wunder im Dunkeln” von Walter Moers.

  3. Elric sagt:

    Ah, sehr schöner Artikel, Käferl.
    Was mir dazu einfällt: warum werden eigentlich Beschwörungen immer nur in dunklen und abgeschiedenen Räumen – meist weit unter der Erde – durchgeführt? Warum leben Drachen eigentlich immer in Höhlen?
    Passend dazu zwei deutsche Autoren, die mir doch sehr gut gefallen haben:
    Ulrike Schweikert mit ihrer Drachenkrone (erster Teil einer Trilogie), in der die Gruppe auf ihrer Flucht auch durch ein Höhlensystem flieht und dort einen Drachen trifft
    Markolf Hoffmann in seinem “Zeitalter der Wandlung”: dort gibt es die Magiequellen, von denen die mächtigsten auch wieder in Bergen mit verschlungenen Höhlensystemen zu finden sind.
    Beide Autoren schaffen es – wie Käferl schon schreibt – sehr gut das beklemmende Gefühl zu vermitteln, welches in einer solchen Umgebung auftritt.

    Ich denke der Grund für die Nutzung der Höhle an sich ist relativ einfach: es gibt wenig Menschen (Leser), die sich wirklich schon mal so richtig lange in einer Höhle aufgehalten haben, bzw. dies eigentlich nur mit einem Führer erlebt haben. Die Gefahr sich zu verirren ist in dem Fall extrem hoch und sorgt schon alleine bei der Vorstellung einer Flucht durch derartige Bereiche für ein unangenehmes Gefühl – jedenfalls bei mir.

    Puh, mehr geschrieben als gedacht und trotzdem irgendwie nicht viel gesagt…!? So what!
    Danke Käferl!

  4. mistkaeferl sagt:

    Den Hoffmann habe ich glatt vergessen, da gibt’s in der Tat einige unterirdische Passagen (no pun intended).

    Und bei “Rumo” auch? Den habe ich noch nicht gelesen, aber Walter Moers traue ich eine Menge Höhlen zu.

  5. Colophonius sagt:

    Wie konnte ich Moers nur vergessen: ja, bei ihm wimmelt es tatsächlich von Höhlen, in allen 3 Hauptwerken.

    Bei “Rumo” tummelt sich in der Untenwelt alles Böse und Irre, und das Theater der schönen Tode ist nur der Gipfel des Wahnsinns, den die Höhlen da bergen.
    Anders ist es scho im “Blaubär”, denn in den Höhlen der Finsterberge kann es nicht finster genug sein: laut Prof. Nachtigaller steigert sich die Intelligenz im Dunkeln nämlich ins Unermessliche (“Wissens ist Nacht”) – zumindest bei ihm und seinen 7 Gehirnen. Beim Blaubär hat man nicht allzu sehr das Gefühl, als würde die Methode sehr fruchten…
    In der “Stadt der träumenden Bücher” schließlich gibt es ganz unterschiedliche Höhlen: Zufluchtsorte wie die lederne Grotte, aber auch schaurige Tunnel voller Fallen und Gefährnissen und dann natürlich die “Höhle in der Höhle”: Schloß Schattenhall. Fährnisse oder Zufluchtsort? Das mag ich nicht so recht entscheiden …

    Fakt ist: Spannend, wie unterschiedlich ein Motiv von einem Autoren bearbeitet werden kann! Und dabei sind mir sicher noch nicht einmal alle Höhlen eingefallen, die Zamonien so beherbergt…

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