Der Zwerg liest fremd: The Windup Girl

Auch wenn es den einen oder anderen Fanboy schockieren mag, so gibt es doch eine Bücherwelt jenseits der Fantasy. Sogar eine sehr große. Und ich muss gestehen, dass ich immer mal wieder den Punkt erreiche, an dem mich die Aussicht auf den x-ten 1000-seitigen Auftaktband DER nächsten großen Trilogie voller Ritter und Ränkeschmiede (egal ob Friede, Freude, Narniakuchen oder George & Gritty) eher mit Grausen denn mit Vorfreude füllt und ich lieber zu Krimi, Sachbuch oder wasauchimmer greife. Frei nach dem (überraschend alten) Sprichwort “All Orks and no spaceships makes Jack a dull boy”.

In der Hoffnung, damit zumindest bei dem einen oder anderen auf interessierte Ohren Augen zu stoßen, möchte ich in dieser Kolumne ab und an, soll heißen wenn ich nicht nur Lust und ein passendes Buch habe, sondern mir die Chefin auch noch meine hanebüchene Begründung abnimmt, was das mit Fantasy zu tun hätte, von meinen Ausflügen in die fernen Gefilde jenseits des phantastischen Tellerrandes berichten. Im Moment schweben mir da zum Beispiel das Vorbild zu Glen Cooks Dead Man, ein interessanter Ausblick auf die Welt nach ihrem Untergang, ein walisischer Recke und ein alter Grieche vor, den auch ein Fantasyautor vor kurzem gelesen haben muss.

In diesem Sinne: hinaus in die Ferne, mit Butterbrot und … Paolo Bacigalupi:

The Windup Girl

Bisher hatte ich bei dem Stichwort “Steampunk” in erster Linie so etwas wie Girl Genius von Phil & Kaja Foglio vor Augen. Zumindest bis mir in einem berühmt-berüchtigten Wiener Buchladen mit einem simplen “Lies das!” Paolo Bacigalupis Windup Girl, dessen Übersetzung die Tage bei Heyne unter dem Titel Biokrieg erscheint, in die Hand gedrückt wurde – und meine Vorstellung von Steampunk komplett auf den Kopf gestellt wurde.

Anders als bei Girl Genius und einer gewissen Sonnenschirm-Schnulze, an die ich mich lieber nicht weiter erinnern möchte, geht es hier nicht um eine frühindustrielle Welt, in der moderne Technik mittels Dampfmaschinen und Zahnrädern umgesetzt wird – sondern um das genaue Gegenteil, eine Zukunft, in der wieder auf Dampf- und Muskelkraft zurückgegriffen werden muss.

Angesiedelt ist das Buch ein paar Jahrhunderte in der Zukunft: die Polkappen sind geschmolzen, der Meeresspiegel angestiegen, Krankheiten haben die meisten Nahrungspflanzen dahin gerafft, so dass westliche “Calorie Companies” mit ihren Gen-Pflanzen die Welt kontrollieren. Einzig das Königreich Thailand konnte Dank seiner Gen-Hacker seine Unabhängigkeit bewahren. Und während sich nun im schwül-heißen Bangkok, überragt von einer riesigen Staumauer, die allein die Stadt vor dem Schicksal Atlantis’ bewahrt, Umwelt- und Wirtschaftsministerium argwöhnisch belauern und eine Handvoll westlicher Geschäftsleute eifrig Waren ins Land schmuggelt, versucht ein Agent einer Calorie Company den Gen-Hackern auf die Spur zu kommen. Dessen rechte Hand, ein Exilchinese, der mit letzter Kraft einem Pogrom in Malaysia entkommen ist und nun mit tausenden Mitflüchtlingen in Bangkok ums Überleben kämpft, hat jedoch ganz andere Pläne.
Und mittendrin ein Windup Girl, eine im Genlabor erzeugte Frau, die, von den Thais gehasst, benutzt und misshandelt, einen eigenen Willen entwickelt und sich zu wehren beginnt…

Ein Buch, in dem die Enge der Stadt, die Pläne der einzelnen Charaktere und die brütende Hitze eine explosive Mischung erzeugen, die, einer griechischen Tragödie gleich, unweigerlich zur Katastrophe führen muss.
Und der Leser schaut, Seite um Seite verschlingend, fasziniert dabei zu.

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The Windup Girl von Paolo Bacigalupi ist 2009 in den USA bei Night Shade Books (361 Seiten, ISBN: 978-1-59780-158-4) und 2010 im UK bei Orbit UK (544 Seiten, ISBN: 978-0-35650-053-9) erschienen.
Die deutsche Übersetzung von Hannes Riffel und Dorothea Kallfass erscheint am 8. Februar 2011 unter dem Titel Biokrieg bei Heyne (608 Seiten, ISBN: 978-3-453-52757-7)

6 Kommentare zu Der Zwerg liest fremd: The Windup Girl

  1. moyashi sagt:

    Sonnenschirm Schnulze … pöh. (-.-)

    Windup-Girl klingt allerdings trotzdem zu spannend, als dass ich es ignorieren kann. *seufz*
    Wieder ein Buch mehr auf der muss-ich-haben-Liste (angesichts der Coverauswahl, gibt es das für mich aber definitiv auf englisch).

    Danke, fürs fremd lesen. 😉

  2. maschine sagt:

    Ja, das deutsche Cover und auch den deutschen Titel finde ich ein wenig…langweilig.
    Anscheinend wollte man da dem Buch einen “seriöseren” Anstrich verpassen und es eher als Thriller oder Zukunftsroman vermarkten.

  3. Katerchen sagt:

    *seufz*
    Ich werde es im Auge behalten.
    Es klingt wirklich verlockend…

  4. molosovsky sagt:

    Eine sehr feine Kolumnen-Idee, lieber Teich!

    Bin schon gespannt auf weitere Berichte von Ausflügen zu Gefilden jenseits des Tellerrands. “The Windup Girl” ist sicherlich ein lohnender SF-Roman für so einen Ausflug.

  5. molosovsky sagt:

    Entschuldigung für die Verwechslung, maschine.

  6. 'Pingback: Der Zwerg liest fremd: Age of Bronze in der Bibliotheka Phantastika

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