Lobgesang

Nach Windwirs Fall herrscht Misstrauen unter den Völkern der Benannten Lande, und Rudolfo, der Zigeunerkönig, hat sich in seine Waldresidenz zurückgezogen und leitet den Neuaufbau der Bibliothek. Als unerkannte Attentäter zur Feier seines neugeborenen Sohnes ein Blutbad unter den Gästen anrichten, kommt er unbeschadet davon, und der Samen der Zwietracht ist gesät: hat der Zigeunerkönig etwas mit den Anschlägen zu tun? Doch während sich Rudolfo auf die Suche nach Wahrheit begibt, antwortet eine unbekannte Macht auf die Zerstrittenheit der Völker, und ihre Antwort ist: Krieg.

– Der Sonnenaufgang über den Mahlenden Ödlanden war von schrecklicher Herrlichkeit. –
Vorspiel

Es ist kein Zeichen überbordender Kreativität, einer Rezension den Titel des zu rezensierenden Romans zu verleihen. Doch da „Lobgesang auf Lobgesang“ noch unbeholfener tönt, möchte ich es bei der Einfachnennung belassen. Was also ist so gut am zweiten Band des Zyklus Die Legende von Isaak von Ken Scholes, dass ich hier einen weiteren Lobgesang anstimmen möchte?

Die Geschichte beginnt einige Monate nach der Verheerung Windwirs. Die Protagonisten sind über die Benannten Lande verstreut und versuchen noch immer, die Rätsel um die Zerstörung der einst so prächtigen Stadt zu lösen und die daraus resultierenden diplomatischen Verwicklungen zu entwirren. Besonders durch die Augen von Neb, Rudolfo und Vlad Li Tam entdeckt der Leser immer mehr von der Welt; die Mahlenden Ödlande werden durchlaufen und das Smaragdmeer durchschifft. Für jedes vermeintlich gelöste Rätsel werden jedoch zehn neue Frage aufgeworfen, und bald erschüttert Verrat und Krieg die Bewohner der Benannten Lande und die Leser des Romans.

Tatsächlich kann Lobgesang (Canticle) als ein Roman über Verrat, über Krieg, und über Verantwortung gelesen werden – und als Roman über Familie. Die zwischenmenschliche, familiäre Beziehung ist ein zentraler Handlungsmotor: während Winters jegliche Bezugsperson zu verlieren scheint, muss Vlad Li Tam erkennen, dass Blut zwar dicker als Wasser ist, aber dennoch vergossen werden kann.
Unkonventionell finde ich die Entscheidung, einen Protagonisten im inneren Konflikt zwischen Vaterschaft und Pflichtbewusstsein zu skizzieren. Äußerst feinfühlig schildert Scholes die wachsende emotionale Bindung eines Vaters an sein Neugeborenes, ohne in blinden Kitsch abzudriften. Die Sorge um das „Greater Good“ wird mit einem Male zum Kampf um ein einzelnes Leben. Doch bevor der actiongewohnte Fantasyfan aufstöhnt, sei ihm versichert: noch immer ist Rudolfo Staatsmann, und wer glaubte, die Intrigen der Familie Li Tam mit dem Ende des ersten Bandes durchschaut zu haben, wird enttäuscht werden. Noch feiner wird das Netz aus Täuschung, noch tiefgreifender der Verrat und deutlich blutiger die Auseinandersetzungen. Lobgesang ist kein schmachtendes Familiendrama, sondern ein spannender Fantasyroman und Scholes ein Autor, der sich der Herausforderung einer komplexen Charakterentwicklung annimmt.
Das Motiv des innerlichen Zwiespalts, des inneren Kampfes, zieht sich wie ein roter Faden durch die Charakterzeichnung. Winters ist nicht nur ein verliebtes junges Mädchen auf der Suche nach menschlicher Geborgenheit, sondern auch Kriegerin und Herrscherin eines Volkes, welches ungeahnt eine ganz andere Rolle spielt, als sie es sich hatte vorstellen können. Jin Li Tam hingegen hat genug von der häuslichen Wärme und stürzt sich, den eigenen Sohn im Arm haltend, in die Schlacht. Nur Petronus steuert ohne Zaudern auf ein Ziel zu; doch die gefürchtete und gleichzeitig herbeigesehnte Abrechnung ereilt ihn anders, als geplant.

Besonders diese Ambivalenz der Figuren und die sorgfältig und glaubhaft gezeichneten inneren Konflikte der Charaktere fesseln den Leser an die Seiten; ihre Schicksale vermögen zu Tränen der Freude oder der Trauer zu rühren. Jahrelanger Fantasygenuss härtet zwar ab, die Geschichte um die Familie Li Tam jedoch schockiert und führt den Leser die Abgründe menschlichen Handelns vor Augen.
Doch nicht nur menschliches Handeln bestimmt den Fortgang der Geschichte: immer mehr wird deutlich, dass die dampfbetriebenen Mechoservitoren nicht die passiven, programmausführenden Wissenscontainer sind, für die man sie gern halten würde. Und während alle dem Wissen der verlorenen Stadt Windwir auf der Spur sind, erwächst im karmesinroten Schatten des Sumpfvolkes eine uralte Bedrohung zu grausamer Stärke, und die Bundraben rufen es von den Dächern: Blutmagie …

Gewohnt sprachlich brillant und äußerst stimmig übersetzt erzählt Scholes seine facettenreiche Geschichte, die man als Leser atemlos, Seite um Seite verschlingt. Handlungsfäden treiben auseinander, überkreuzen sich und finden in grausamer Vorahnung wieder zusammen. Nie verliert der Autor einen Faden, und am Ende erkennt der Leser ein Muster, welches auf das Äußerste gespannt auf den dritten Band warten lässt. Und so langsam dämmert es dem Leser, dass Scholes etwas ganz und gar außergewöhnliches geschrieben hat: einen Lobgesang in Moll.

Stand: 15. September 2012
Originaltitel: Canticle
Erscheinungsjahr: 2011
Verlag: Blanvalet
Übersetzung: Simone Heller
ISBN: 9783442266739
Seitenzahl: 576