: Mythologie, osteuropäisch

Die Intrige der Kaiserin von Sarah ZettelBridget Lederle ist Leuchtturmwärterin. Als ein Boot in Seenot gerät, kann sie den in Not geratenen Mann retten. Valin Kalami stellt sich jedoch als Fremder heraus, als Magier aus einer anderen Welt namens Isavalta. Bridget, die in die Gesellschaft ihrer Heimat ohnehin schlecht integriert ist, entscheidet sich nach einigen Visionen, Valin nach Isavalta zurückzubegleiten. Aber sie geraten in einen Hinterhalt, Bridget wird von Feinden gefangen. Langsam muss sie das intrigenreiche Leben von Isavalta durchschauen und die ihr eigene Magie entdecken, um zu überleben.

-Lighthouse Point, Sand Island, Wisconsin. Um Mitternacht zwischen dem ersten und zweiten November des Jahres 1899 klappten Bridget Lederles Augen von selbst auf, was sie sofort hellwach werden ließ.-

Sarah Zettels Isavalta-Trilogie dürfte vor allem Leser ansprechen, die ein wenig Abwechslung von gewohnten Schemata des Genres suchen, aber trotzdem gerne klassische Fantasy-Geschichten lesen. Auch hier wird – wie schon so oft – ein Mensch aus unserer Welt als prophezeiter Retter in eine magiebetonte Paralellwelt geführt, aber dort entwickelt sich alles ganz anders, als man vielleicht erwartet.
Bridget Lederle, die Protagonistin, ist nicht als Figur konzipiert, die dem Leser den Einstieg in die fremde Welt erleichtern soll, weil sie aus unserer Welt dorthin geht – sie ist im Jahr 1899 Leuchtturmwärterin und auf den Kulturschock, den der Übergang von unserer technisierten Moderne in die Fantasy-Welt meist mit sich bringt, wurde größtenteils verzichtet. Auch wird die Heldin in ihrer neuen Heimat nicht als Retterin gefeiert, und sie verfügt auch nicht über die geeigneten Kräfte – im Gegenteil, sie versteht Sprache und Kultur von Isavalta nicht und ist den Begebenheiten dort hilflos ausgeliefert. Erst nach und nach entfaltet sich ihr Verständnis und ihre Magie, gleichzeitig hat sie eine Traumatisierung zu überwinden, die aus ihr eine unzugängliche, nicht immer verständlich agierende Frau macht, die sich in ihrer Heimat mehr schlecht als recht durchgeschlagen hat – sie ist also in keinster Weise eine Bilderbuchheldin, und es dauert, bis man sich mit ihr richtig angefreundet hat.

Auch die Paralellwelt weiß zu überraschen – kein mittelaltertümelnder Fantasy-Standard, sondern der Fokus liegt auf  einer Fantasy-Version vom zaristischen Rußland (Isavalta) und China und Indien (die beiden verfeindeten Nachbarreiche). Man trifft auf Märchenfiguren wie die Baba-Jaga und viele andere archaische Mächte, die Zettel geschickt in die Geschichte einflicht.
Im winterlichen Reich von Isavalta finden die Machtspiele allerdings vielfach auch hinter verschlossenen Türen statt: Jeder spielt seine eigenen Spielchen und im Netzwerk von Intrigen, in das Bridget als Außenstehende gerät, findet sie sich nicht leicht zurecht. Sogar die Mächte, die Gutes bezwecken wollen, müssen sich harter Mittel bedienen, und jeder Beteiligte in den Machtrangeleien hat eigene, für sich durchaus verständliche Motivationen. Es vergeht viel Zeit, bis Bridget versteht und eigene, nicht immer einfache Entscheidungen treffen kann. Die problembeladene Frau entwickelt nach und nach ihre eigene Form von Stärke, und sie ist nicht die einzige Figur, der von der Autorin so intensiv und stimmig geschildert wird; gerade bei einem Plot, der auf Manipulation beruht, ist das unverzichtbar.

Die Handlung verläuft ruhig und ohne große Actionszenen; die Auseinandersetzungen spielen sich im privaten und nicht im öffentlichen Bereich ab, und sind häufig durch die sehr interessante Magie gekennzeichnet: in Isavalta wird Magisches geknüpft oder gewoben – anhand von Zöpfen, Stoffsträngen und phantasievolleren Ingredienzien.
Allerdings dauert es eine Weile, bis man mit Bridget aus dem verklemmten amerikanischen Fischerstädtchen ins interessantere Isavalta fliehen kann. Und am Ende bleiben gerade wegen der komplexen konstruierten Handlung zu viele Fragen offen, relevante Details werden nur angedeutet, obwohl sie für die Handlung bestimmend sind, wie etwa die Geschehnisse in den Jugendtagen der Kaiserin.
Die Intrige der Kaiserin ist am besten, wenn es um die wohldurchdachten Einzelheiten und das stimmige, originelle Setting geht; Klischees wie eine platte Liebesgeschichte werden auf elegante Weise umschifft. Der Hintergrundplot dagegen kann nicht auf ganzer Linie überzeugen, tritt allerdings auch in der Bedeutung hinter die Entwicklung der Figuren zurück.

Cover von Der Kuss der Russalka von Nina BlazonRussland, 1706: Johannes ist mit seinem Onkel und seiner Tante ins Reich Zar Peters eingewandert, der europäische Handwerker zu Hunderten an die Newa holt. Als ein geheimnisvolles Mädchen tot aus dem Fluss geborgen wird, bringt man die Leiche in die Werkstatt von Johannes’ Onkel. Johannes bemerkt schnell, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, zumal der geistig behinderte Mitja die Tote als Russalka bezeichnet hat. Als die gut bewachte Mädchenleiche verschwindet, gerät die Familie unter Verdacht. Johannes verfolgt die Spur der Russalka weiter, um den Ruf seiner Familie zu retten. Dabei kommen er und sein neuer Freund Jewgenij einer Verschwörung gegen Zar Peter auf die Spur, die ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen wird …

-Hoch türmten sich die Erdwälle der Peter-Paul-Festung vor dem Boot auf, das nun am Newator anlegte. Die Festung war das eigentliche “Sankt Piter Burch”, ein Bollwerk, das Zar Peter nach seinem Namenspatron benannt hatte, dem heiligen Petrus, und das nun der neuen Stadt ihren Namen gab.-

Zunächst entführt die Autorin den Leser ins historische Russland. Durch die Augen des jungen Johannes berichtet sie von dem gewaltigen Unterfangen, eine Zarenstadt aus sumpfigem Nichts zu errichten. Die Arbeiten an diesem Jahrhundertprojekt werden nicht als munteres Treiben beschrieben, statt dessen treten deutlich die Spannungen zwischen europäischen Handwerkern und Architekten, einheimischen Arbeitern, versklavten Kriegsgefangenen und der Militärmacht zu Tage – historisch glaubhaft und atmosphärisch geschildert. Nicht nur im Aufbau seiner Stadt, sondern auch in der Figur Peters des Großen selbst spiegeln sich Widersprüche: Der mal großherzige und mal barbarisch brutale Zar erfährt einerseits Hochachtung und wird als Weltveränderer verehrt, andererseits aber ist er der orthodoxen Schicht im Lande ein Dorn im Auge.
Dass dann in diesem historischen Roman plötzlich ein wahrhaftiges Fabelwesen – eine Russalka ist ein Meerjungfrauen-ähnliches Wesen, das in Flüssen und Seen lebt und Macht über das Wasser hat – auftritt, wirkt zuerst irritierend. Doch gerade die Mischung der märchenhaften Elemente mit dem realen Hintergrund macht die Geschichte besonders fesselnd. Mit dem wissenschaftlich interessierten und fortschrittlichen Zar Peter und den Hütern der Russalka treffen aufklärerische Züge und Naturglaube aufeinander. Von der “kleinen Meerjungfrau” hebt sich das russische Wasserwesen übrigens wohltuend ab, denn es kombiniert betörende Sinnlichkeit mit erschreckender Tierhaftigkeit. Und auch der “Kuss der Russalka” ist keineswegs das romantische Erlebnis, nach dem es sich anhört …

Die unfreiwilligen Helden der Geschichte, Johannes und Jewgenij, überzeugen vor allem dadurch, dass sich ihre Freundschaft erst einen langen Weg durch Feindseligkeit, Prügel und Nörgeleien hindurch bahnen muss. Ihre unterschiedlichen, manchmal schlicht widersprüchlichen Charaktere ergänzen sich wunderbar. Was den beiden auf ihrer Jagd nach dem Geheimnis der Russalkas widerfährt, hinterlässt seine Spuren in ihren Charakteren, bringt sie mal einander näher und mal beinahe auseinander. Eine schöne Anti-Bilderbuchfreundschaft also, wodurch beide besonders lebendig erscheinen.

Die abwechlungsreiche Geschichte ist historischer Roman, Krimi, Märchen, politischer Thriller und sogar Lovestory in einem, wirkt jedoch nie überladen. Leider muss man gelegentlich etwas angestrengt versuchen dem Verlauf zu folgen, wenn zum Beispiel ein paar kryptische Weissagungen des Gottesnarren Mitja einen komplizierten Zusammenhang erklären. Aber das mindert weder die Spannung noch schadet es der dichten, abenteuerlich-schauerlichen Atmosphäre, die die Geschichte durchzieht. Unbedingt abends bis nachts zu lesen!

The Last Guardian of Everness von John C. WrightGalen, der jüngste Spross der Familie Waylock, wird von seinem Großvater dazu ausgebildet, sich im Familienanwesen Everness in die Welt der Träume zu begeben und dort die ewige Wacht zu halten, mit der die Familie betraut ist: Wenn sich die Finsternis erhebt, müssen die Waylocks die Mächte des Lichts zum Kampf rufen. Galen erkennt untrügliche Zeichen dafür, dass diese Zeit gekommen ist, und da er seinem alten Großvater die schwere Aufgabe abnehmen will, wagt er einen Alleingang in das Reich der Träume. Gleichzeitig bangt der kräftige, aus dem Kaukasus stammende Raven in einem Krankenhaus um das Leben seiner hübschen Frau Wendy – und erhält ein verlockendes Angebot.

-Upon a midnight in midsummer, upon an unchanging ancient house upon the coast, in the year when he was a boy no more and a man not yet, Galen Waylock heard the far-off sound of the sea-bell tolling slowly in his dream.-
Founding, 1

John C. Wright ist ein Autor, den man heute eigentlich nicht mehr guten Gewissens empfehlen kann, nachdem er ein christliches Erweckungserlebnis hatte und darauffolgend auch politisch in die extreme Ecke abgewandert ist, wie er stetig mit mehr als fragwürdigen Äußerungen untermauert. Mit der zweibändigen Saga The War of the Dreaming, seinem ersten Ausflug in die Fantasy, hat er jedoch einen atemberaubenden modernen Mythos geschaffen, und da The Last Guardian of Everness auch vor Wrights Radikalisierung verfasst wurde, hat es sich eine Erwähnung verdient. Ob man den Roman mit dem Wissen um Wrights Gesinnung, die aus The Last Guardian of Everness allerdings nur schwer herauszulesen ist, ungebtrübt genießen kann, sei dahingestellt.
Wright erfindet die Mär vom ewigen Kampf zwischen Licht und Dunkel nicht neu, sondern stürzt sich mit großer Begeisterung auf ältere und neuere Vorgänger in diesem Metier und nimmt sich hier und da, was er für sein großes Mosaik braucht. Und das Gesamtwerk, das er dann aus all diesen kleinen Schnipseln schafft, geht erstaunlicherweise nicht in dieser Vielzahl von Versatzstücken und Ideen unter, sondern ist tatsächlich etwas Eigenes und mehr als die Summe seiner Teile geworden.

In Wrights Traumlanden wird eine Welt gezeigt, die über die Grenzen der unseren hinausgeht und doch mit ihr verbunden ist. Je mehr Seiten man von The Last Guardian of Everness liest, desto unglaublicher scheint die schiere Menge an Mythen, Sagen und Geschichten, die Wright zu einem großen Mythos verknüpft hat. Alle Anspielungen zu verstehen, die aufgefahren werden, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit: Neben der Artussage, antiken Gottheiten und exotischeren Gestalten wie dem russischen Koschei stehen Schöpfungen Lord Dunsanys oder C.S. Lewis’ und etlicher anderer Schriftsteller. Das erstaunliche an diesem bunten Flickenteppich ist, dass Wright zwar mit so manchem Klischee bricht und all die Orte und Figuren zu einem großen Über-Mythos verbindet, ihnen aber trotzdem ihre Identität nicht nimmt: Eine Fee ist bei ihm letzten Endes trotz aller Brechungen doch eindeutig eine Fee, und ein Gott kann auf ungewohnte, aber dennoch stimmige Weise seine Mächte zum Einsatz bringen.

Bei all dem schweren Geschütz, das aufgefahren wird, ist The Last Guardian of Everness meistens trotzdem locker erzählt und verblüffend modern – so sind die Waylockschen Familienverhältnisse nicht die allerbesten, und mögen die Charaktere auch noch so phantastisch sein und gegen überirdische Gegner antreten, so kämpfen sie doch auch mit ganz alltäglichen Problemen. Die Handlungsstränge bieten einige gelungene Wendungen und sind auf äußerst spannende Weise miteinander verknüpft; Wright scheut sich auch nicht, einnehmende Figuren unerwartet abzuschießen.
Besonderen Genuss bereiten die wunderbaren Bilder, die Wright präsentiert – gigantische Kompositionen, die den Leser mit offenem Mund dasitzen lassen. Gerade zu Beginn des Romans jagt diesbezüglich ein Höhepunkt den nächsten, und man hätte sich durchaus einmal etwas Entspannung zwischendurch erhofft, wenn die Dichte der epischen Momente fast zu schön ist, um wahr zu sein. Atemberaubend ist es allemal, und jedes Detail vom kleinen Gedicht bis zum riesigen Panorama ist stimmig.
Eine diesmal rein inhaltliche Warnung zum Abschluss: Die Geschichte endet dann, wenn sie am schönsten ist, bzw. in einem absoluten Cliffhanger und erfordert eigentlich auch die Lektüre des zweiten und abschließenden Teils.