Das Wunschtal

Das Wunschtal von Ursula K. Le GuinHugh ist Kassierer in einem Supermarkt und lebt ein mehr als eintöniges Leben unter der Fuchtel seiner Mutter, die den jungen Mann nicht gehen lassen will und ihm seine Ausbildung zum Bibliothekar verwehrt.
Eines Tages findet Hugh bei einem Spaziergang im Wald ein Tor, das an einen anderen Ort führt. Bald schon geht er jeden Tag an jenen Ort und genießt dort die Natur und die Tatsache, daß kaum Zeit vergeht, während er sich dort aufhält. Doch dann begegnet er Irene, einem Mädchen aus seiner Stadt, das den Ort schon seit Jahren kennt. Irene ist nicht erfreut über den zusätzlichen Besucher, führt ihn aber schließlich widerwillig zu den Bewohnern der Welt hinter dem Tor. Die einfachen Menschen dort warten auf einen Retter und glauben ihn in Hugh zu erkennen…

-“Kassa sieben besetzen”, und wieder zurück zwischen die Kassen, Drahtkörbe entladen, Äpfel, drei um neunundachtzig, Ananas-Stücke im Sonderangebot, eine halbe Gallone fünfundsiebzig, vier, und eins ist fünf, danke, von zehn bis sechs, sechs Tage die Woche; und er machte seine Arbeit gut.-
1. Kapitel

Ein Tor, das von unserer in eine andere Welt führt, in der es Abenteuer zu bestehen gilt, ist eine der Grundzutaten der Fantasy, und so wähnt man sich in Ursula K. Le Guins Wunschtal schnell auf bekanntem Grund und Boden. Doch ist die phantastische Welt hinter dem Tor im Wald auffallend flach, sie entwickelt keinerlei Tiefe, und ihre Bewohner bleiben Platzhalter, genauso die Queste für die menschlichen Besucher Hugh und Irene, die nicht über eine simple Mutprobe hinauskommt. Von einer voll ausgeformten Anderswelt könnte dieser Roman nicht weiter entfernt sein.

Während man zu Beginn noch darauf wartet, daß sich größere Zusammenhänge in der ursprünglich-schlichten Welt hinter dem Tor auftun, wird zum Ende hin klar, daß es sich dabei lediglich um ein Konstrukt außerhalb unserer Realität handelt, in dem sich die beiden Helden der Geschichte, aus deren Sicht abwechselnd erzählt wird, bewähren können, um schließlich nach ihrer Rückkehr den Mut zu haben, ein neues Leben anzufangen.
Vor ihrem Besuch hinter dem Tor sind die beiden alles andere als heroisch, sie leben in bedrückenden Umständen, die auch immer wieder die Erlebnisse in der Anderwelt überlagern und erst nach und nach zurückgedrängt werden. Die Kraft, etwas an ihrer Lage zu ändern und sich gegenseitig zu unterstützen, bringen sie erst nach dem Kampf in der anderen Welt auf, dann können sie auch ihr hiesiges Leben meistern und brauchen die Anderswelt nicht mehr.
Damit ist die Welt hinter dem Tor lediglich ein Vehikel, das durchgehend blass bleibt und nur seinen Zweck erfüllt – als Phantasie-Ort der Prüfung und Bewährung bietet sie vielmehr Analogien als für sich stehende Handlungselemente, vor allem auch im sich rasch abzeichnenden Endkampf. Rasch ist überhaupt ein gutes Stichwort – mit ihren 200 Seiten ist die Geschichte in erster Linie eine Parabel und nicht der epische Fantasy-Roman, den der Klappentext verspricht.

Tortzdem bleibt man von der einfach konstruierten Geschichte seltsam unberührt – zu Le Guins besseren Werken zählt sie nicht. Positiv fällt wie immer die Sprache der Autorin auf, die den Protagonisten aus unserer Welt angemessen relativ modern ist und nur selten in den Duktus klassischer Fantasy fällt. Trotzdem steckt viel Mühe in der Sprache der Anderswelt-Bewohner, was angesichts der Tatsache, daß der Rest dieser Welt bloß angezeichnet ist, etwas unbalanciert wirkt und den Eindruck verstärkt, daß Das Wunschtal nicht recht entschieden hat, ob es nun Fantasy oder Gleichnis sein will.

Stand: 06. Juni 2012
Originaltitel: The Beginning Place
Erscheinungsjahr: USA 1980, D 1984
Verlag: Heyne
Übersetzung: Hilde Linnert
ISBN: 3-453-21385-8
Seitenzahl: 205