Die verlassene Geschichte

Cover von Die verlassene Geschichte von Andrés IbáñezPrinz Adenar lebt in Amaula, im Lande des Ewigen Augenblicks. Sein Vater ist der regierende König und seine Mutter hat sich vor langer Zeit in einen Drachen verwandelt und ist fortgegangen. Aber das ist nicht schlimm, denn wenn man sich in Amaula mit einer geliebten Person in Verbindung setzen will, muß man nur an sie denken, dann wird man von ihr gehört. Doch Adenars Mutter antwortet nicht mehr, denn der Prinz ist von einer schrecklichen Krankheit befallen worden -der Langeweile. Deshalb hat er auch keinen Zutritt mehr zu seinem Gedächtnis. Das ist in Amaula eine Katastrophe, da es dort keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt und die Einwohner sind des Lesens unkundig. Alles, was man sich merken möchte, legt man mit einer besonderen Technik in seinem Gedächtnis ab. Bücher sind seltene und kostbare Schätze. Prinz Adenar hat vor langer Zeit von seiner Mutter ein Buch geschenkt bekommen. Er hütet es, weil es ihn an sie erinnert, aber er kennt den Inhalt nicht. Magier wollen den Prinzen nach Saalpano schicken, doch er landet in der Stadt Floria. Dort behandelt man ihn in einer psychiatrischen Klinik und behauptet, er sei ein junger Mann, der sein Gedächtnis verloren habe. Weil er sich an seine eigene Identität nicht mehr erinnert, habe er die eines Helden aus einem bekannten Kinderbuch angenommen, eben die des Prinzen Adenar. Ist Adenar tatsächlich verrückt? Als er aus der Klinik entlassen wird, kommt er einem erschreckenden Geheimnis auf die Spur.

– Der ehrwürdige Doktor honoris causa Mirmidon Aguanopulos, Verwaltungsdirektor des Mondes, fuhr auf seinem Hochrad über die Phönixallee von Floria, der monumentalen Hauptstadt des an Wäldern reichen und übermäßig vom Regen gesegneten Landes Goyanas.-
Prolog: Gedächtnis und Gedächtnisschwund

Die verlassene Geschichte (La sombra del pájaro lira ) ist ein großartiges Buch mit einem hässlichen Schönheitsfleck. Der Roman beginnt wie ein poetisches Märchen oder ein Traum. Amaula ist ein phantastisches Land mit surrealen Elementen, beschrieben in einer poetischen, bildhaften Sprache, die zu psychologischen Deutungen einlädt: ein Land, in dem die Zeit aufgehoben ist, dessen Bewohner Bücher wertschätzen, sie aber nicht lesen können, die Mutter, die sich verwandelt hat und fortgegangen ist, die Magier, der sprechende rote Vogel. Man versucht, diese Bilder zu enträtseln, aber da am Anfang noch nicht klar ist, wie die Geschichte verlaufen wird, gelangt man zu keinem befriedigendem Ergebnis. Als Adenar in der Stadt Floria ankommt, scheint sich der Roman zu einer Kaspar-Hauser-Geschichte zu entwickeln: ein junger Mann, der in der Stadt gestrandet ist, ohne zu wissen, wer er ist und wo er herkommt und der schließlich einen Honoratioren der Stadt als Vormund erhält. Adenar bekommt sogar ein Vermögen, als er aus der Klinik entlassen wird, um seinen Unterhalt zu sichern. Man könnte ihn fast beneiden, hätte man nicht gleich darauf gelesen, daß er sich wie alle Florianer an seinem achtzehnten Geburtstag im Schicksalministerium melden muß, um ein Kästchen in Empfang zu nehmen. Der Leser bekommt ein ungutes Gefühl in der Magengrube und denkt an “orwellsche” Verhältnisse. Und tatsächlich scheint sich immer mehr zu bestätigen, daß Floria eher einer Diktatur gleicht als einem Wohlfahrtsstaat. Fesselnd erzählt Ibáñez davon, wie Adenar hinter das Geheimnis der Stadt kommt und welche Entscheidung er trifft. Man könnte Die verlassene Geschichte als phantastischen Entwicklungsroman in den höchsten Tönen loben und davon schwärmen wie poetisch, traumhaft, phantasievoll, weise und philosophisch dieses Buch ist, gäbe es diesen fragwürdigen Schluß nicht, der eindeutig zu esoterisch ist. Das Ende der Geschichte könnte folgendermaßen verstanden werden: Wir, die wir ein höheres Bewußtsein erreicht haben, sind die geistige Elite, deshalb laßt uns diesen dämonischen Planeten mit einem Raumschiff verlassen, um zu einem Stern aufzubrechen, der uns ein besseres Leben bietet. Und mit Verlaub, das erinnert doch fatal an die Stories, die Sektenführer ihren Anhängern erzählen, bevor sie sich in einem Massenselbstmord vergiften. Natürlich kann man die Moral der Geschichte auch anders und positiver interpretieren. Als Rezensent glaubt man ja immer an das Gute im Menschen und daran, daß die Leser die richtigen Schlüsse ziehen, aber der Knackpunkt ist, daß Ibáñez ein virtuoser Schriftsteller ist, der es gar nicht nötig hätte auf der Esoterikwelle zu reiten. Seine Philosophie der Selbstfindung und des Lebensmuts hätte er auch ideologiefrei und ohne esoterischen Einschlag allgemeingültig formulieren können. Das wäre weitaus wirkungsvoller und weniger fragwürdig gewesen.

Stand: 27. Oktober 2012
Originaltitel: La sombra del pájaro lira
Erscheinungsjahr: E 2003, D 2004
Verlag: List
Übersetzung: Angelica Ammar
ISBN: 3-471-79490-5
Seitenzahl: 475