Zum 75. Geburtstag von Joyce Carol Oates

Bibliotheka Phantastika gratuliert Joyce Carol Oates, die heute 75 Jahre alt wird. Wenn man das Oeuvre der am 16. Juni 1938 in Lockport im amerikanischen Bundesstaat New York geborenen Joyce Carol Oates betrachtet, fallen auf Anhieb zwei Dinge auf: einmal ihre unglaubliche Produktivität – die möglicherweise mit ein Grund dafür ist, warum die Grande Dame der us-amerikanischen Literatur zwar immer wieder als Kandidatin für den Gewinn des Literatur-Nobelpreises gehandelt wird, ihn aber bisher nicht gewonnen hat – und zum anderen die Tatsache, dass sie für ihre Romane und Erzählungen nicht nur mit hoch angesehenen literarischen Preisen wie dem O. Henry Award, dem PEN/Malamud Award oder dem National Book Award bedacht wurde, sondern auch mit Genrepreisen wie dem Bram Stoker Award oder dem World Fantasy Award. Was bereits darauf hindeutet, dass sich zwar der größte Teil ihrer über 60 Romane und mehr als 300 Erzählungen im Bereich des literarischen Mainstreams bewegt, es aber unter ihren Werken immer wieder welche gibt, die eindeutig und ganz bewusst als Genreliteratur angelegt sind. Das gilt zum Beispiel für ihre unter dem Pseudonym Rosamond Smith verfassten Thriller, die gelegentlich – etwa in Soul/Mate (1989; dt. Dein Tod, mein Leben (1993)) – die Grenze zum psychologischen Horrorroman zumindest ankratzen. Überschritten hat sie diese Grenze schließlich mit Zombie (1995; dt. Zombie (2000)), einem aus der Sicht eines Serienkillers verfassten Roman, für den sie mit dem o.e. Bram Stoker Award ausgezeichnet wurde.
Bellefleur von Joyce Carol OatesFür an Phantastik interessierte Leser und Leserinnen weitaus interessanter dürften allerdings die fünf als “gothic quintet” bezeichneten Romane sein, die Joyce Carol Oates alle in den 80er Jahren geschrieben hat und die sich ganz bewusst auf die Tradition der gothic novel stützen, sich ihrer Erzählmuster, Figuren und Motive bedienen. Den Anfang machte mit Bellefleur (1980; dt. Bellefleur (1982)) ein Roman, bei dem dieser Rückgriff besonders gut gelungen ist und zu überzeugenden Ergebnissen geführt hat. Im Mittelpunkt von Bellefleur steht die Familie Bellefleur, deren Stammvater am Vorabend der Französischen Revolution aus Frankreich geflohen ist, und die nun seit sieben Generationen in Nordamerika lebt, doch genauso wichtig ist Schloss Bellefleur, der Sitz der Familie, ein monströser Bau mit Erkern und Türmchen, der in Stein gehauene Ausdruck des Größenwahns und der Exzentrik seiner Bewohner. Der nicht in wenigen Sätzen nachzuerzählende Roman wartet mit so ziemlich allem auf, was die angloamerikanische Schauerliteratur zu bieten hat: Flüche und Geister, starke Männer und schöne Frauen, Verrat und Wahnsinn, verzauberte Spiegel, Missgeburten, Zwerge und Gestaltwandler; die Handlung springt dabei wild zwischen den Generationen hin und her, und das Ganze wird in einem hitzigen, überbordenden, aber immer kontrollierten Stil erzählt, der das Lesen ebenso aufregend wie anstrengend macht. Wer schon immer einmal wissen wollte, was sich hinter dem Begriff gothic novel letztlich verbirgt und dabei die Auseinandersetzung mit der Prosa des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts scheut, kann mit Bellefleur zu einem Werk greifen, das wie kaum ein zweites ein modernes Destillat der Schauerliteratur verkörpert.
Verglichen mit seinem Vorgänger fällt A Bloodsmoor Romance (1982; dt. Die Schwestern von Bloodsmoor (1987)) spürbar ab. Auch in diesem Roman geht es um eine Familie (wie “Familie” generell ein wichtiges Thema für Joyce Carol Oates – auch in ihren Mainstream-Romanen – ist), bzw. vor allem um die fünf Töchter des Erfinders John Quincy Zinn, die sich allesamt im heiratsfähigen Alter befinden, und die man von 1879 bis 1899 auf ihrem in eine Heirat – oder eben nicht – mündenden Lebensweg begleitet. Natürlich gibt es darüberhinaus eine ganze Menge phantastischer Zutaten, angefangen bei einem schwarzen Heißluftballon, mit dem Deirdre, die jüngste Tochter, aus dem heimischen Park entführt wird, über diverse Geistererscheinungen, eine Zeitreise oder eine Geschlechtsumwandlung, bis hin zu der Tatsache, dass Quinn danach strebt, das perfekte Perpetuum mobile zu bauen; hinzu kommen Auftritte von Mark Twain und Madame Blavatsky. Trotzdem kann A Bloodsmoor Romance – vermutlich, weil es wohl vor allem eine ironische Version einer typischen romance des 19. Jahrhunderts sein sollte – nicht ganz so überzeugen wie Bellefleur. Zumindest nicht, wenn man den Roman hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zur Schauerliteratur betrachtet.
Mysteries of Winterthur von Joyce Carol OatesBei Mysteries of Winterthurn (1984) hingegen sieht das schon wieder ganz anders aus. Wie der Titel bereits andeutet, hat sich Joyce Carol Oates hier der klassischen mystery novel angenommen, zu der logischerweise auch ein Detektiv gehört, und das ist in diesem Fall Xavier Kilgarvan, der als Teenager, dann als Endzwanziger und schließlich mit knapp vierzig Jahren in seiner Heimatstadt Winterthurn jeweils einen rätselhaften Kriminalfall lösen muss. Mysteries spielt dabei auf beeindruckende Weise mit den Konventionen zweier Genres, denn während die Orte, die Xavier im Rahmen seiner Ermittlungen mal mehr, mal weniger freiwillig aufsuchen muss, häufig typische Schauplätze einer gothic novel sind, verweist die Darstellung der Stadt Winterthurn mit ihren offensichtlichen und weniger offensichtlichen Geheimnissen, ihren gesellschaftlichen Strömungen und Reibungspunkten auf die mystery novel bzw. den Krimi, in dem oft ein gesellschaftskritischer Ansatz zu finden ist. Worum es in Mysteries of Winterthurn eigentlich geht, können im Laufe dieses Jahres auch die interessierten deutschsprachigen Leser und Leserinnen herausfinden, wenn – knapp 30 Jahre nach Erscheinen des Originals – mit Die Geheimnisse von Winterthurn endlich eine Übersetzung dieses unverständlicherweise bisher nie ins Deutsche übertragenen Romans auf den Markt kommen wird.
Die letzten beiden Romane des “gothic quintets” – My Heart Laid Bare (1998) und der ursprünglich als The Crosswicks Horror betitelte The Accursed (2013) – wurden ebenfalls bereits in den 80er Jahren geschrieben, aber bis zu ihrem Erscheinen von Joyce Carol Oates mehrfach überarbeitet. Während My Heart Laid Bare keinerlei phantastische Elemente aufweist, tauchen im gerade erst in den USA veröffentlichten The Accursed anscheinend wieder aus der Schauerliteratur bekannte Motive und Figuren wie Geister, Dämonen und Doppelgänger auf.
Dass das Phantastische immer wieder – und immer noch – einen Platz im Werk von Joyce Carol Oates hat, lässt sich auch anhand ihrer Kurzgeschichten und Erzählungen feststellen. Entsprechende Sammlungen, in denen praktisch ausschließlich phantastische Geschichten enthalten sind, sind beispielsweise Haunted: Tales of the Grotesque (1994; dt. Das Spukhaus. Erzählungen (1996)) und The Collector of Hearts: New Tales of the Grotesque (1998). Darüberhinaus war und ist sie immer wieder in Genre-Anthologien vertreten und hat 2011 für “Fossil-Figures” den World Fantasy Award und – passend zu ihrem Geburtstag – gerade dieses Wochenende für ihre Kurzgeschichtensammlung Black Dahlia & White Rose (2012) den Bram Stoker Award erhalten.

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