Nuramon

Nuramon von James A. SullivanNuramon ist als einziger Elf in der Menschenwelt zurückgeblieben, als sie auf ewig von der Heimat der Elfen getrennt wurde. Obwohl er zunächst wenig erpicht darauf ist, Kontakte zu Menschen zu knüpfen, entschließt er sich, seine Magie bei der Verteidigung der Stadt Teredyr zum Einsatz zu bringen, in deren Nähe er lebt, und gerät infolgedessen immer tiefer in menschliche Angelegenheiten hinein. Wider Erwarten scheint er sein Glück zu finden, als er sich in die Grafentochter Daoramu verliebt. Doch nicht jeder steht der Verbindung aufgeschlossen gegenüber, und die bedrohliche Magie, die sich immer weiter in der Welt ausbreitet, ruht ebenso wenig wie alte und neue Feinde …

Die Zukunft eilt uns stets voraus und hinterlässt Spuren, die ich zu lesen vermag. Und so entdeckte ich euch in all den Jahren, was vor euch liegen könnte, und mein Blick erwies sich oft als wahr. Gelegentlich aber traten Dinge nicht ein, die ich sah. Manchmal blieb die prophezeite Zukunft aus, gerade weil ich sie euch entdeckte. Etwas zu betrachten heißt oft, es zunichtezumachen. Denn dem Wissen um das Schicksal mögen Taten folgen, welche die gesehene Zukunft verändern. Zum Besseren, wie ich stets hoffe, zum Schlechteren, wie ich fürchte.
(Die Stimme des Orakels)

Obwohl James Sullivan mit Nuramon an Die Elfen (gemeinsam mit Bernhard Hennen verfasst) anknüpft, kann das vorliegende Werk sehr gut als Einzelband bestehen und ist auch ohne Kenntnis des Vorgängerromans problemlos lesbar. Eine einfache Einordnung in eine Schublade ist dagegen kaum möglich: Nuramon ist Weltrettungsepos, Familiensaga, Kriegs- und Intrigenpanorama und fish out of water-Geschichte in einem, wobei der Fisch allerdings mindestens als moralbewusster Tigerhai zu denken ist, denn was den Titelhelden Nuramon vor allem auszeichnet, ist seine Mischung aus für menschliche Begriffe unüberwindlichen Fähigkeiten und erstaunlich idealistischer Grundeinstellung. Als schon mehrfach Wiedergeborener, Krieger und zunächst einziger Nutzer der sehr mächtigen Magie, die von Reisen auf geheimen Wegen über Heilzauber bis hin zum vernichtenden Gebrauch im Kampf zahlreiche Einsatzmöglichkeiten bietet, verfügt er über ein Können, das Begehrlichkeiten weckt und zugleich moralische Probleme aufwirft. Wie er sich damit auseinandersetzt und sich gesellschaftlichen Erwartungen, nicht aber der gesellschaftlichen Verantwortung, zu entziehen weiß, ist sensibel und nuancenreich geschildert. Dass man dieser bisweilen überlebensgroßen Gestalt dabei nicht überdrüssig wird, hängt damit zusammen, dass Sullivan das Kunststück gelingt, Nuramon mit glaubwürdigen Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten auszustatten und ihm so die Sympathie des Lesers zu erhalten.

Neben solch einer vielseitigen Hauptfigur wirken einige der anderen Charaktere notwendigerweise skizzenhafter, doch auch wenn man von manchem gern noch mehr erfahren hätte, überzeugt das Gesamtensemble durchaus, vor allem in der über dreißig Jahre umspannenden Herausbildung und Weiterentwicklung seines Beziehungsgefüges: Wie Rivalen zu Verbündeten oder Freunde zu Feinden werden und solch eine schlichte Geste wie ein individueller Racheverzicht im Laufe der Zeit Auswirkungen auf ganze Staaten entfalten kann, wird gekonnt ausgemalt. Ermöglicht wird diese Schilderung mehrerer Jahrzehnte auf gut 800 Seiten vor allem dadurch, dass Sullivan sich häufig von dem im Genre mittlerweile zum Standard gewordenen szenischen Erzählen löst und neue Ansätze wagt. So erlaubt etwa der im Buch so betitelte Orakelblick, der auf engem Raum eine Vielzahl verschiedener Perspektiven zusammenstellt, die schlaglichtartige Beleuchtung aller möglichen Aspekte, doch es gibt auch im eigentlichen Haupttext geschickt genutzte raffende Passagen, die es gestatten, auch langfristige politische, militärische und wirtschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen, allen voran die Folgen, die der im Laufe der Geschichte ständig anwachsende Magiegebrauch nach sich zieht. Von dieser flexiblen Nutzung verschiedenster Erzähltechniken könnte manch ein anderer Fantasyautor viel lernen.

Eine beeindruckende Ausdehnung weist übrigens nicht nur die dargestellte Zeitspanne auf, sondern auch die Welt, in der sich Nuramons Abenteuer abspielen. Obwohl die Handlung sich auf zahlreiche unterschiedliche Orte verteilt, behält man immer den Eindruck, dass man hier noch viel mehr entdecken könnte, wenn der Autor einen nur lassen wollte. Dazu trägt sicher bei, dass die Beschreibungen der Schauplätze zwar oft knapp, aber sehr atmosphärisch sind und genau die richtigen Details aufrufen, um in wenigen Worten das Bild einer ganzen Landschaft heraufzubeschwören. Wer hätte nicht sofort eine Assoziation zu einer Weide, auf der die graufelligen Steinschafe ihr Auskommen finden, oder zu Bezeichnungen wie Schlangenforst und Elfengrat? Für eine im weitesten Sinne pseudomittelalterliche (auf alle Fälle noch vorindustrielle) Welt geht es dort übrigens bemerkenswert liberal und progressiv zu: So existieren in einigen der geschilderten Gesellschaften Kriegerinnen und politisch einflussreiche Frauen, und von den Konventionen der Mehrheit abweichende sexuelle Vorlieben (z.B. eine innige Dreierbeziehung) werden nicht nur mit viel Verständnis geschildert, sondern erfahren auch romanintern Akzeptanz. Dementsprechend ist es wohl auch keine gezielte Vermittlung eines gegenläufigen Bilds, wenn Sullivan in der Handlungsstruktur bisweilen eher traditionelle Wege einschlägt und immer dann, wenn der Roman nach einer damsel in distress verlangt, die mit großem Aufwand gerettet werden muss, auch tatsächlich eine Frau die Rolle ausfüllen lässt. Hier dürfte eher die oft unbewusste Wirkmacht bestimmter klassischer Erzählmuster deutlich werden.

Dem positiven Gesamteindruck tut das jedoch keinen Abbruch, denn alles in allem ist Nuramon vor allem eines: Ein Roman, in dem man wunderbar versinken kann und mit dessen Helden man gern durch alle Höhen und Tiefen mitfiebert, und dabei dank seiner originellen Ansätze eine Bereicherung für die deutschsprachige Fantasy.

Stand: 19. Dezember 2013
Erscheinungsjahr: 2013
Verlag: Heyne
ISBN: 978-3-453-52994-6
Seitenzahl: 822