Zum 65. Geburtstag von P.C. Hodgell

Bibliotheka Phantastika gratuliert P.C. Hodgell, die heute 65 Jahre alt wird. Auch die am 16. März 1951 in Des Moines, Iowa, geborene Patricia Christine Hodgell zählt zu den Autorinnen, von denen die rein deutschsprachigen Fantasyleser und -leserinnen vermutlich noch nie etwas gehört haben, denn bislang ist weder eine ihrer Kurzgeschichten noch einer ihrer Romane auf Deutsch erschienen. Das ist in diesem Fall besonders bedauerlich, da ihre Chronicles of the Kencyrath geradezu exemplarisch für all das stehen, was die Fantasy einmal faszinierend und lesenswert gemacht hat, bevor das Genre – einem vorgeblichen Realismus geschuldet – in den Settings und Figuren vor allem der Grimdark-Fantasy in Dreck, Blut und diversen anderen Körpersäften fast ertrunken ist.
Wobei anhand ihrer ersten Veröffentlichungen allenfalls zu erahnen war, was für eine Autorin hier die große Fantasy-Bühne betreten hatte, denn in ihren ersten Kurzgeschichten “A Matter of Honor” – in der Anthologie Clarion SF (1977) – und “Child of Darkness” – in der Anthologie The Berkley Showcase: New Writings in Science Fiction and Fantasy, Vol. 2 (1980) – war P.C. Hodgell noch erkennbar auf der Suche nach ihrer Erzählstimme bzw. dem richtigen Umgang mit ihrer Hauptfigur.
God Stalk von P. C. HodgellBeides hatte sie beim Erscheinen ihres ersten Romans allerdings gefunden, so dass in God Stalk (1982) – dem ersten Band der Chronicles of the Kencyrath – all das, was in den zuvor veröffentlichten Kurzgeschichten nur angedeutet war, zur vollen Entfaltung kommen konnte. God Stalk erzählt die Geschichte von Jame, die auf der Flucht ist und aus den Haunted Lands in die Stadt Tai-tastigon kommt. Sie weiß, dass sie eine Kencyr ist – mit einziehbaren Krallen statt Fingernägeln –, ein Mitglied von einem von drei Völkern, die in ihrer Gesamtheit die Kencyrath bilden, die wiederum im Auftrag des Three-Faced God seit dreißig Jahrtausenden gegen die Macht von Perimal Darkling kämpfen, einer alles verschlingenden Entität. Sie weiß auch, dass sie eine Fremde auf dieser Welt ist, denn die Kencyr mussten – nachdem sie wieder einmal eine Niederlage gegen Perimal Darkling erlitten hatten – von der Welt, auf der sie zuvor gelebt hatten, nach Rathilien fliehen. Das alles weiß Jame, doch viel mehr weiß sie nicht, denn ihre persönlichen Erinnerungen reichen kaum zwei Wochen zurück – aber vielleicht will sie sich – aus guten Gründen – auch gar nicht an die vergangenen zehn Jahre erinnern. Das ist aber letztlich auch unwichtig, denn zunächst einmal geht es für Jame darum, in einer für sie fremden Welt zu überleben.
Was für eine Kencyr, die einem streng monotheistischen Glauben anhängt, in einer Stadt der tausend Götter und Göttinnen – die durchaus in persona auftreten können – gar nicht so einfach ist. Und es sind ja nicht nur die Gottheiten, die das Leben in Tai-tastigon kompliziert machen, sondern auch die Gilden und Geheimgesellschaften, die ebenfalls Einfluss auf das alltägliche Leben nehmen. Dennoch findet Jame einen Platz in dieser Gesellschaft – oder genau genommen sogar zwei: zum einen arbeitet sie als Tänzerin in der Schenke, in der sie lebt, und zum anderen wird sie – als Junge verkleidet – Lehrling in der mächtigen Diebesgilde. Beides bietet Raum genug für jede Menge aufregende Abenteuer, die sie nicht nur magisch anzuziehen scheint, sondern in die sie sich auch begeistert immer wieder aufs Neue stürzt …
Es ist schwierig, der Fülle an Ideen und Ereignissen, die in God Stalk zu finden sind, in einigen wenigen Sätzen gerecht zu werden. Der Roman lebt einerseits von Jame, dieser hitzköpfigen, starrsinnigen, neugierigen jungen Frau, die mehr als ein Geheimnis mit sich herumschleppt, und die durchaus bereit ist, aus ihren Fehlern zu lernen – was sie allerdings nicht daran hindert, neue zu machen. Aber auch Tai-tastigon, dieser faszinierende Moloch von einer Stadt (der bewusst ein bisschen an Fritz Leibers Lankhmar angelehnt ist) spielt eine wichtige Rolle im Geschehen. Und last but not least gibt es noch unzählige Einzelheiten – wie den Ring, den Jame an einem abgeschnittenen Finger bei sich trägt, oder das geheimnisvolle Book Bound in Pale Leather, oder die Tatsache, dass Jame in der Schenke Tänze aufführt, deren Macht und Wirkung sie in diesem Augenblick noch nicht einmal erahnt –, auf die an dieser Stelle weiter einzugehen sich aus Umfangsgründen verbietet. Von daher soll es genügen, einfach nur ganz deutlich zu sagen, dass God Stalk einer der besten Sword-&-Sorcery-Romane ist, die jemals geschrieben wurden, und damit ein Lesetipp für alle, die Abenteuerliteratur in einem farbigen, überzeugend geschilderten Setting und eine sympathische, aber keineswegs eindimensionale Protagonistin – was heutzutage vermutlich beides als altmodisch gilt – zu schätzen wissen (und auf Englisch lesen).
In den Folgebänden Dark of the Moon (1985), Seeker’s Mask (1994), To Ride a Rathorn (2006), Bound in Blood (2010), Honor’s Paradox (2011) und The Sea of Time (2014) ändern sich Szenario und Grundstimmung des Zyklus deutlich. Aus einem swashbuckling adventure (mit gelegentlichen, über das eigentliche Abenteuer hinausgehenden Verweisen auf eine weit größere, nur umrisshaft zu erkennende Geschichte) wird ein epischer Fantasyzyklus, der einen Vergleich mit anderen derartigen Zyklen nicht zu scheuen braucht und eigentlich in jeder ernst gemeinten Geschichte der epischen Fantasy erwähnt werden müsste. Doch auch wenn die Grundstimmung der Chronicles of the Kencyrath sich ändert und die eingangs erwähnte Hintergrundgeschichte vom Kampf der Kencyrath gegen Perimal Darkling von nun an einen großen Teil der Handlung bestimmt, bleibt Jame – die in Dark of the Moon Tai-tastigon hinter sich gelassen hat und neben anderen Mitgliedern ihres Volkes auch ihrem (aus gewissen Gründen zehn Jahre älteren) Zwillingsbruder Tori begegnet – so ziemlich die Gleiche. Und genauso, wie sie sich in Tai-tastigon dank ihrer Hitzköpfigkeit, ihres Starrsinns und ihrer Neugier immer wieder in gefährliche Situationen manövriert hat, gerät sie in der von (vor allem in Bezug auf Frauen und ihre Stellung) rigiden Normen gekennzeichneten Gesellschaft der Kencyr ziemlich schnell in Konflikte, denn ein Freigeist wie Jame – die mit vollem Namen Jamethiel Priest’s Bane heißt, diesen Namen aber aus guten Gründen anfangs für sich behalten hat – kann besagte Normen schlicht nicht akzeptieren. Nicht zuletzt deshalb, weil ihr immer deutlicher bewusst wird, dass ihr eine ganz besondere Rolle im Kampf der Kencyrath gegen Perimal Darkling zukommt …
Dark of the Moon von P. C. HodgellMehr zu verraten, ergibt an dieser Stelle wenig Sinn. Wer genauer wissen will, was es mit den Kencyr und den Kencyrath – zu denen neben den sehr menschenähnlichen Kencyr noch die ebenfalls menschenähnlichen Kendar und die riesigen katzenartigen Arrin-Ken gehören – und ihrem ewigen Kampf gegen Perimal Darkling auf sich hat (und auch auf Englisch liest), dem seien die als Neuauflage bei Baen Books allesamt noch lieferbaren Chronicles of the Kencyrath im Original empfohlen (God Stalk und Dark of the Moon finden sich in dem Sammelband The Godstaker Chronicles (2009), Seeker’s Mask und To Ride a Rathorn im Sammelband Seeker’s Bane (2009)). Wobei ein Blick auf die Daten der Erstveröffentlichungen möglicherweise einen der Gründe erklärt, warum die Chronicles nie auf Deutsch erschienen sind und auch in den USA längst nicht so bekannt sind, wie man vermuten könnte. Zwischen dem Erscheinen von God Stalk und dem neuesten Roman The Sea of Time sind immerhin 32 Jahre verstrichen, wobei das größere Problem vermutlich die langen Pausen zwischen Band zwei und drei und dann noch einmal zwischen Band drei und vier waren. Die erste Pause hatte damit zu tun, dass P.C. Hodgell sich nach den ersten beiden Romanen ihrer Dissertation (Ivanhoe: The Nonsense of Ancient Days) gewidmet hat und anschließend ohne Verlag dastand. Die zweite damit, dass der Kleinverlag, der Seeker’s Mask veröffentlicht hat, kurz darauf die Pforten geschlossen hat. Dass Meisha Merlin – ein weiterer kleiner bzw. Spezialverlag – ein Jahr nach der Veröffentlichung von To Ride a Rathorn Konkurs angemeldet hat, ist dann sozusagen das I-Tüpfelchen auf der doch ziemlich traurigen Publikationsgeschichte der Chronicles of the Kencyrath. Immerhin hat P.C. Hodgell jetzt mit Baen Books einen Verlag gefunden, der nicht nur sämtliche Romane lieferbar hält, sondern auch die – als Buch schon lange vergriffene – Kurzgeschichtensammlung Blood & Ivory: A Tapestry (2002; ursprünglich erschienen als Blood & Ivory: The Collected Tales of Jamethiel Priest’s-Bane (1994)) zumindest als eBook im vergangenen Jahr wieder verfügbar gemacht hat. Auch wenn man darüber hinwegsehen muss, dass die auf dem Cover der ersten Baen-Ausgaben dargestellte Person unmöglich die als “flat-chested” beschriebene Jame sein kann, die immerhin in der Diebesgilde von Tai-tastigon als Junge durchgegangen ist.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Chronicles of the Kencyrath P.C. Hodgells Lebenswerk darstellen. Nicht nur, weil sie seit mehr als dreißig Jahren an den Abenteuern James und der Kencyrath schreibt, sondern auch, weil ihre außerhalb der Chronicles angesiedelten Veröfentlichungen sich problemlos an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Mittlerweile hat sie ihre akademische Laufbahn beendet und konzentriert sich voll und ganz aufs Schreiben, so dass die Hoffnung besteht, dass sie die Geschichte James und all dessen, was dazugehört, in absehbarer Zeit zu Ende erzählen wird. Auch und gerade weil sie sich so mancher altbekannter und inzwischen oft als ausgelutscht beiseitegeschobener Topoi des Genres bedient, das aber auf eine so geschickte Weise macht, dass deutlich wird, welche Kraft vielen von diesen Motiven innewohnt bzw. warum sie überhaupt erst zu besagten Topoi geworden sind. Darüberhinaus ist Jame schlicht eine faszinierende Figur, der man immer wieder gerne begegnet, obwohl – oder weil – sie immer noch hitzköpfig, starrsinnig und neugierig ist – aber eben auch bereit, aus ihren Fehlern zu lernen.

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Webcomic: Wilde Life

Oscar Wilde ist Schriftsteller, und wie sein Namenspate genießt auch er gern das Leben in vollen Zügen, doch nach einem erschütternden Ereignis (über das wir nur ein paar vage Hinweise erfahren) zieht es ihn in die Einsamkeit, aufs Land, in ein Örtchen namens Podunk mitten in Oklahoma, wo er von einer gewissen B. Jaga ein unschlagbar günstiges Haus mieten konnte. Und wie das mit unschlagbar günstigen Angeboten so ist, hat das Ganze einen Haken: Es spukt.
Podunk ist ein merkwürdiges Kaff, in dem nichts und niemand ist, was er oder sie zu sein scheint, in dem man nur ein paar Meter in den Wald spazieren muss, um sich plötzlich sprechenden Bären, Sagengestalten oder hilfreichen Spinnen gegenüber zu finden, und manchmal besuchen sie einen sogar auf der Türschwelle. Oscar verdient einen Preis für die stoische Ruhe, mit der er diese Dinge hinnimmt und Podunk zunächst treu bleibt, statt schreiend davonzulaufen.

Mit seinen Rückgriffen auf die örtliche Mythologie einerseits und das allgemein bekannte Figurenrepertoire des Genres andererseits könnte man Wilde Life als Urban-Fantasy-Comic bezeichnen, nur dass Podunk und “urban” unter keinen Umständen in einem Satz vorkommen können. Rural Fantasy also, in der die Natur, die Wildnis, niemals weit weg ist, und zwar äußerlich wie innerlich.
Neben Oscar, dem Tagebuch führenden Helden, der doch nichts aus seinem Inneren preisgibt und bei dem nach und nach der Verdacht aufkommt, dass er zwar wie der einzig Normale im übernatürlichen Hexenkessel seines neuen Zuhauses wirkt, eigentlich aber eine mindestens ebenso merkwürdige Geschichte wie seine neuen Nachbarn mit sich herumschleppt, kreist die Geschichte um den bindungsgestörten Teenager Cliff und die sympathische, aber nur selten solide Mathematikerin Sylvia.

Wilde Life Chapter 4 von Pascalle LepasObwohl Wilde Life schon ein Jahr (mit zuverlässigen 2-3 Updates pro Woche) läuft, hat man das Gefühl, dass die Erzählung sich noch entfaltet, die Figuren sich noch einfinden und die Mythologie, die auch stark auf indianische Überlieferungen gründet, sich ganz langsam ausweitet. Es ist aber kein schlechtes Gefühl – das reduzierte Tempo kommt dem Konzept der “Rural Fantasy” sehr entgegen.
Schöpferin Pascalle Lepas erweist sich dabei als versierte und fokussierte Erzählerin: In den inzwischen vier Kapiteln von Wilde Life gibt es jeweils einen definierten Handlungsbogen, der das Mysterium von Podunk – und auch das Mysterium dessen, was Oscar dort eigentlich wirklich zu finden hofft – ergründet. Die ausgeklügelte Konstruktion der Kapitel macht zuversichtlich, dass Lepas ihren Stoff gut im Griff hat und ihn nicht zu sehr wuchern lässt, wie es im Webcomic häufig vorkommt. Dazu kommt ihr Händchen für visuelle Ästhetik, sei es mit den clever konstruierten Panels, die durch ihr Foreshadowing die Stimmung einer Szene oder eines Kapitels mit oft sinistren Untertönen in eine andere Richtung kippen lassen, oder die atmosphärischen Landschaftsbilder, mit denen sie die Weite und Einsamkeit von Podunk heraufbeschwört.
Dass sie vorher bereits ein extrem ausuferndes SF-Projekt zu Ende geführt hat, sorgt sicher dafür, dass man es in Wilde Life mit einer gereiften Erzählerin zu tun hat, die ihr Handwerk beherrscht.

Wilde Life ist ein aus dem Leben gegriffener Comic, der moderne Technik, modernen Sprachgebrauch und die entsprechenden Verhaltensweisen wie selbstverständlich in die entrückte Atmosphäre von Podunk einbaut. Dass man in der Pampa sitzt, heißt ja noch lange nicht, dass man kein Tinder benutzen kann, richtig?
Ein weiterer Pluspunkt ist der warmherzige und zugleich trockene Humor, der Wilde Life durchdringt und Oscar hilft, mit den ungewöhnlichen Situationen klarzukommen, in die er am laufenden Band stolpert. Das und Oscars Herangehensweise, das Übernatürliche einfach in seinen Alltag zu integrieren, helfen dem Leser auch dabei, den ganzen Wahnwitz zu schlucken, der über ihn herfällt.

Banner Wilde Life
Demnächst werden die ersten Kapitel von Wilde Life wohl auch in Buchform erscheinen (via Crowdfunding), und bis dahin lohnt es sich, ein bisschen in diesen zurückgenommenen, thematisch ganz leicht neben dem Gewohnten liegenden Webcomic hineinzuschmökern.

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Zum 70. Geburtstag von Phyllis Eisenstein

Bibliotheka Phantastika gratuliert Phyllis Eisenstein, die heute 70 Jahre alt wird. Auch wenn die am 26. Februar 1946 in Chicago, Illinois, geborene Phyllis Leah Kleinstein bereits seit Anfang der 70er Jahre immer mal wieder als SF- und Fantasy-Autorin aktiv war, dürfte der Name Phyllis Eisenstein (den neuen Nachnamen verdankt sie ihrer Heirat mit Alex Eisenstein) hierzulande nur den wenigsten Lesern und Leserinnen bekannt sein. Zum einen, weil sie in dieser Zeitspanne vor allem Kurzgeschichten und Erzählungen – teils allein, teils zusammen mit ihrem Mann – geschrieben hat, zum anderen, weil nur ein sehr kleiner Teil ihres aus sechs Romanen und etwa fünfzig Geschichten bestehenden Œuvres hierzulande veröffentlicht wurde.
Phyllis Eisensteins professionelle Karriere begann mit der SF-Kurzgeschichte “The Trouble with the Past” in der von Robert Silverberg herausgegebenen Anthologie New Dimensions 1 (1971), an der ihr Mann als Co-Autor mitgearbeitet hatte, doch noch im gleichen Jahr erschien mit “Born to Exile” in der Augustausgabe des Magazine of Fantasy and Science Fiction die erste von ihr allein verfasste Erzählung. In ihr hat Alaric the Minstrel seinen ersten Auftritt, der im Abstand von jeweils ungefähr anderthalb Jahren drei weitere Abenteuer auf den Seiten des Magazins erleben sollte, die – um eine zusätzliche Story ergänzt – unter dem Titel Born to Exile (1978) schließlich auch in Buchform auf den Markt kamen.
Born to Exile von Phyllis EisensteinAlaric ist ein Findelkind; er wurde als Säugling, dessen Knöchel eine blutige, abgetrennte Hand umklammerte, einst von seinen Stiefeltern am Wegesrand gefunden. Das erfährt er im Alter von sieben Jahren, als seine Stiefmutter stirbt und sein Stiefvater, der dieses Kind im Gegensatz zu seiner Frau nie geliebt hat, das Balg endlich loswerden will. Alaric flieht, da nun nichts mehr zwischen ihm und der Brutalität seines Stiefvaters steht, und entdeckt dabei, dass er über eine ungewöhnliche Begabung verfügt: er kann sich kraft seines Geistes an Orte versetzen, die er sich bildhaft vorstellen kann. Allerdings ist diese Begabung mehr Fluch als Segen, denn wenn die Menschen um ihn herum ihrer gewahr werden, wird er rasch auf dem Scheiterhaufen enden. Doch Alaric hat Glück, denn er begegnet vier Jahre später Dall, einem fahrenden Troubadour, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm das Singen und Lautespielen beibringt – doch als Dall nochmals vier Jahre später eines Nachts von Räubern getötet wird, ist Alaric völlig auf sich allein gestellt … All diese Hintergrundinformationen flicht Phyllis Eisenstein bereits auf den ersten Seiten der o.g. ersten Episode ein, in der Alaric eine Burg besucht, um sich dort einige Zeit als Troubadour zu verdingen, und prompt in eine Palastintrige gerät – mal ganz abgesehen davon, dass er sich in die Prinzessin verliebt. Ebenso wie in den folgenden Episoden, in denen Alaric u.a. in einer gefährlichen Schenke landet und in ein sehr merkwürdiges Dorf kommt, findet er Freunde und stößt auf Widersacher, so dass er letztlich immer weiterzieht, um für sich einen Platz in der Welt zu finden und das Rätsel seiner Vergangenheit zu lösen.
Wenn man sich klar macht, wann die einzelnen Episoden entstanden sind, aus denen sich Born to Exile zusammensetzt – nämlich deutlich vor jenem Zeitpunkt, ab dem ein Schwert und ein Leprakranker die Fantasywelt nachhaltig verändern sollten –, wird deutlich, dass dieses Buch allein schon aus genrehistorischen Gründen interessant ist, denn es unterscheidet sich nicht nur spürbar von der damals marktbeherrschenden Sword & Sorcery, sondern nimmt auch Elemente vorweg, die erst einige Jahre später vermehrt in der (nicht nur tolkienesken) Fantasy auftauchen sollten. Darüber hinaus punktet das Buch – das als Alaric (1985) auch auf Deutsch erschienen ist – mit einer sympathischen, sich langsam und nicht ohne Mühen entwickelnden Hauptfigur und einem ökonomischen, dichten Stil, der in der – bereits 1977 mit der Erzählung “The Land of Sorrow” (im Magazine of F&SF) begonnenen, aber erst 1989 als Buch erschienenen – Fortsetzung In the Red Lord’s Reach (in der es Alaric in den eisigen Norden seiner Welt verschlägt) elegischer und metaphernreicher wird.
Die Ansätze in Richtung Entwicklungsroman, die in Born to Exile zu erkennen waren, sind in Sorcerer’s Son (1979), Phyllis Eisensteins zweitem Roman – dem ersten Band der Cray-Ormoru-Sequenz – wesentlich stärker ausgeprägt. Cray Ormoru ist der Sohn eines Zauberers, allerdings weiß er das anfangs nicht, sondern hält sich für den Sohn eines Ritters, der seine Mutter, die Zauberin Delivev Ormoru, verlassen hat. Cray will selbst ein Ritter werden und begibt sich auf eine Queste, um seinen vermeintlichen Vater zu finden bzw. um herauszufinden, warum er niemals wie versprochen zu Delivev zurückgekehrt ist. Diese Queste kann jedoch zu keinem vernünftigen Ergebnis führen, denn … die Sache ist kompliziert. Geschwängert wurde Delivev nämlich von Gildrum, einem Dämon in Menschengestalt, wobei das Sperma von dem mehr als ein bisschen durchgeknallten Zauberer und “Demonmaster” Smada Rezhyk stammt, der sich dadurch dafür rächen wollte, dass Delivev ihn verschmäht hat. Gildrum wiederum ist durch den langen Umgang mit den Menschen längst nicht mehr der Dämon, der er einst war, und er liebt Cray wie seinen eigenen Sohn. Was die Dinge so richtig kompliziert macht, als Cray sich nach einigen Abenteuern entschließt, selbst ein Zauberer bzw. Demonmaster zu werden (da er als Ritter keine Chance sieht, mehr über seinen Vater zu erfahren), und sich dem einzigen Zauberer als Lehrling andient, den er kennt: Smada Rezhyk …
Sorcerer's Son von Phyllis EisensteinWas vielleicht ein bisschen schräg klingen mag, ist es in der Umsetzung eigentlich nicht. Im Gegenteil, die Geschichte entwickelt sich ziemlich folgerichtig und zeigt in Gestalt von Cray, dass man an unangenehmen Antworten und Wahrheiten wachsen kann, behandelt aber auch Themen wie Sklaverei oder die Frage, wie Eltern und Kinder miteinander umgehen sollten – und verpackt das Ganze in eine spannende, mitreißende Handlung.
Auch in der Fortsetzung The Crystal Palace (1988) begibt sich der mittlerweile erwachsene Cray auf eine Queste: dieses Mal, um ein junges Mädchen zu retten, das er in einem magischen Spiegel gesehen hat … Die beiden Romane um Cray Ormoru sind auch in einem Sammelband – The Book of Elementals, Vol. 1 and 2 (2003) – erschienen, und parallel dazu sollte eigentlich ein dritter Band – The City in Stone – herauskommen, der die mittlerweile Book of Elementals genannte Trilogie abschließen sollte, aber besagter dritter Band ist nie erschienen, obwohl er dem Vernehmen nach fertig geschrieben ist.
Was irgendwie zu der sehr merkwürdig verlaufenen Karriere von Phyllis Eisenstein passt, denn was die Qualität ihrer vier Fantasyromane angeht, braucht sie sich ganz gewiss nicht vor vielen ihrer weitaus bekannteren und erfolgreicheren Kollegen und Kolleginnen zu verstecken (die sie – nebenbei bemerkt – durchaus schätzen, was z.B. George R.R. Martin in der Widmung von A Storm of Swords zum Ausdruck gebracht hat). Aber zumindest, was Erzählungen angeht, ist sie auch weiterhin aktiv, denn mit “The Caravan to Nowhere” ist eine weitere Geschichte um Alaric the Minstrel vor gar nicht allzu langer Zeit – genauer: in der von GRRM und Gardner Dozois herausgegebenen Anthologie Rogues (2014) – erschienen.

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Neu rezensiert: The Crown Jewels

The Crown Jewels von Walter Jon WilliamsDrake Maijstral, adlig, weltgewandt, kriminell, hat sich den Planeten Peleng ausgesucht, um ein paar krumme Dinger abzuziehen. Dort versammelt sich gerade so einiges mit Rang und Namen aus der Galaxis, beste Gelegenheiten also für Drake, die Reichen, Schönen und Wichtigen auf gesellschaftlichen Ereignissen auszuspähen und später auszunehmen. Doch auf Peleng geht es um mehr als nur Bälle, Blitzlichtgewitter und Abhängen im Landhaus: Insgeheim wird dort große Politik gemacht. Und Drake ist drauf und dran, mitten hinein zu schlittern …

Zur ganzen Rezension bitte hier entlang.

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Zum 90. Geburtstag von Hilbert Schenck

Bibliotheka Phantastika erinnert an Hilbert Schenck, der heute 90 Jahre alt geworden wäre. Der am 12. Februar 1926 in Boston, Massachusetts, geborene Hilbert van Nydeck Schenck Jr. zählt zu den Autoren, über die kaum etwas bekannt ist – außer, dass er Ingenieur war und an der Universität von Rhode Island gelehrt hat. Allem Anschein hatte er ein großes Interesse an Ozeanografie bzw. hat in diesem Bereich möglicherweise auch gearbeitet und in den 50er und 60er Jahren wohl mehrere Sachbücher zu entsprechenden Themen verfasst. Darüberhinaus hat er vier Romane und ein gutes Dutzend längere und kürzere Geschichten geschrieben, in denen seine Liebe zum Meer fast immer deutlich spürbar wird.
Hilbert Schencks erste Story “Tomorrow’s Weather” erschien bereits 1953 in der Aprilausgabe des Magazine of Fantasy and Science Fiction, doch danach sollte es 24 Jahre dauern, bis mit “Three Days at the End of the World” seine nächste Story – ebenfalls im Magazine of F&SF – veröffentlicht wurde, auf die rasch ein knappes halbes Dutzend weitere folgten, die alle in dem Sammelband Wave Rider (1980) zu finden sind. In diesen Geschichten spielt ebenso wie in den meisten späteren Stories und seinen ab Anfang der 80er Jahre erschienenen Romanen das Meer eine wichtige Rolle – doch die wichtigste und vor allem eine ganz besondere Rolle spielt es in seinem Erstling At the Eye of the Ocean (1981), der auch der Grund ist, warum Hilbert Schenck heute hier überhaupt erwähnt wird.
At the Eye of the Ocean erzählt die Lebensgeschichte von Abel Roon, der im Winter 1828 auf Nashawena – einer Insel, die zu den Elizabeth Islands gehört, einer kleinen Inselkette vor der Südküste von Cape Cod – geboren wird und unter den rauen Bedingungen, die mit dem Leben in dieser Umgebung einhergehen, aufwächst. Schon als Kind merkt Abel, dass er über eine ungewöhnliche Fähigkeit verfügt, denn er kann “hören”, wie das Meer – die Gezeiten und die unterseeischen Strömungen, das Leben in ihm und das Wetter über ihm – zu ihm “spricht”. Als er mit knapp dreizehn zur Waise wird, kommt er in die Obhut des überzeugten Abolitionisten Judge Folger und ist schon bald damit beschäftigt, entflohenen Sklaven zu helfen, indem er als Lotse die Schiffe mit ihnen an Bord sicher nach Kanada bringt (wobei ihm seine besonderen Fähigkeiten natürlich gute Dienste leisten). Und er lernt im Haus des Richters dessen Enkelin Hope Mayhew und damit die Liebe seines Lebens kennen. Doch seine besondere Begabung treibt ihn – u.a. als Kapitän eines Walfängers – immer wieder hinaus aufs Meer, denn er sucht das titelgebende “eye of the ocean”, den mystischen Mittelpunkt des Meeres …
At the Eye of the OceanAt the Eye of the Ocean ist ein auch strukturell sehr eigenwilliger Roman, der sich nicht so ohne Weiteres in eine der üblichen Genreschubladen stecken lässt, der aber – wenn man sich auf seinen über weite Strecken einer sanften Dünung nicht ganz unähnlichen Rhythmus einlässt – mit einem in dieser Form im Genre nur selten zu findenden Leseerlebnis aufwartet. Egal, ob es um die harten Lebensbedingungen vor der Küste von Cape Cod geht, um die eigentlich nur im Vorbeigehen gestreifte, aber dennoch eindringlich geschilderte Sklavenproblematik, um die einfühlsam und überzeugend charakterisierten Hauptfiguren Abel und Hope und die Liebe zwischen ihnen, oder um das Meer in all seiner Schönheit und nie geleugneten Gefährlichkeit – At the Eye of the Ocean ist ein großartiger, das Leben und die Liebe bejahender Roman, der auch nach dem Lesen noch lange nachwirkt. Und den man sogar auf Deutsch lesen kann, denn er ist tatsächlich unter dem Titel Im Auge des Ozeans (1987) auch hierzulande erschienen*.
Hilbert Schencks übrige, mehr der SF zuneigende Romane sind ebenfalls lesenswert, allen voran A Rose for Armageddon (1982), der thematisch seinem Erstling am nächsten steht. Das Gleiche gilt für die meisten seiner Stories, von denen immerhin drei übersetzt wurden.
Nachdem Hilbert Schenck während der 80er Jahre relativ aktiv war – neben den o.g. hat er noch die Romane Steam Bird (1984 als zweiteilige Serie in der April- und Maiausgabe des Magazine of F&SF; Buchausgabe 1988) und Chronosequence (1988) sowie ein paar weitere Geschichten veröffentlicht –, hat er sich 1993 mit der Story “A Present for Santa” von der Schriftstellerei verabschiedet, und am 02. Dezember 2013 ist er im Alter von 87 Jahren gestorben.

* – und zwar in der kurzlebigen Reihe Magische Literatur (Goldmann), allerdings mit dem klitzekleinen Schönheitsfehler, dass man es geschafft hat, Schencks Nachnamen auf dem Cover und dem Buchrücken falsch – nämlich Schenk – zu schreiben; lustigerweise ist er in dem Text “Über den Autor” richtig geschrieben …

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Zum 75. Geburtstag von Hugh Walker

Bibliotheka Phantastika gratuliert Hugh Walker, der heute seinen 75. Geburtstag feiern kann. Das heißt, eigentlich gratulieren wir dem am 04. Februar 1941 in Linz an der Donau geborenen Fantasy-, Horror- und SF-Autor, Herausgeber und Übersetzer Hubert Straßl, der seine Romane und Erzählungen fast alle unter dem Pseudonym Hugh Walker veröffentlicht und es auch für seine Tätigkeit als Herausgeber genutzt hat. Wie viele andere Autoren und Autorinnen seiner Generation begann Straßl seine schriftstellerische Karriere im Fandom, genauer gesagt auf den Seiten des von der Wiener SF-Gruppe herausgegebenen Fanzines Pioneer, in dem ab Anfang der 60er Jahre seine ersten Geschichten erschienen, und zu dem er auch Artikel, Rezensionen und Übersetzungen beisteuerte. Seine Begeisterung für die in den USA damals boomende Fantasy (die zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger mit Sword & Sorcery bzw. Heroic Fantasy gleichzusetzen war) und deren Autoren sowie sein Interesse an strategischen Spielen machte ihn Mitte der 60er Jahre zu einem der Mitgründer von FOLLOW (das steht für “Fellowship of the Lords of the Lands of Wonder”), dem ersten deutschsprachigen Fantasyclub, in dem eine eigene Welt entworfen wurde, auf der ab 1968 das (auch heute noch fortgeführte) “Ewige Spiel” gespielt wurde. Was das mit dem Schriftsteller Hubert Straßl bzw. Hugh Walker zu tun hat? Eine ganze Menge, denn diese anfangs noch namenlose Welt bildet den Hintergrund für den vielleicht wichtigsten Teil seines Schaffens, den mehrfach überarbeiteten Magira-Zyklus.
Reiter der Finsternis von Hugh WalkerDoch bis zur professionellen Veröffentlichung des Magira-Zyklus sollte es noch einige Zeit dauern, auch wenn bereits 1969 eine erste Magira-Story (der bald weitere folgten) im Fanzine Pioneer of Wonder erschien. Inzwischen hatte Straßl allerdings ein paar Horror- und SF-Stories an Verlage wie Heyne oder Pabel verkaufen können, und ab 1971 kamen seine ersten SF-Heftromane auf den Markt, für die er – mit einer Ausnahme – das Pseudonym Hugh Walker nutzte, das ihn von nun an begleiten sollte.
Etwa um die gleiche Zeit wurde er vom Pabel Verlag – an den er seine Magira-Stories geschickt hatte – aufgefordert, auf dieser Grundlage ein Konzept für eine Fantasy-Serie zu entwerfen, da man sich bei Pabel angesichts des allmählich auch in Deutschland aufflackernden Interesses an Fantasy gute Chancen ausrechnete, eine derartige Serie am Markt etablieren zu können. Doch Walkers Konzept kam nicht zum Zuge; man entschied sich für ein anderes Konzept, in dem auf den Atlantis-Mythos zurückgegriffen wurde, was zusammen mit dem SF-lastigen Einstieg aus Dragon – Söhne von Atlantis, der so vollmundig angekündigten “ersten deutschen Fantasy-Serie”, einen am ehesten als Sword & Planet zu bezeichnenden Hybrid machte (wenn man von den wesentlich fantasyhafteren Abenteuern auf “Danilas Welt” absieht). Hugh Walker steuerte insgesamt dreizehn Romane zu Dragon bei, die sicher nicht zu seinen besten Arbeiten zählen, aber deutlich mehr Fantasy-Atmosphäre vermittelten als die fast aller seiner Kollegen.
1972 erschien mit Vampire unter uns Hugh Walkers erster Horror-Heftroman als erstes Heft der neu gestarteten Reihe Vampir Horror Roman, auf den rasch weitere folgen sollten. Walkers untypische, den eigentlich sehr schematischen Regeln für Heftromane selten folgende Romane haben ihn nicht nur zum Kultautor im deutschsprachigen Horror-Fandom gemacht, sondern waren einer der entscheidenden Gründe, warum dem Vampir Horror Roman im Hinblick auf die ersten 100, vor allem aber die ersten 50 Hefte ein deutlich höheres qualitatives Niveau bescheinigt wird als den zur gleichen Zeit erscheinenden Konkurrenzreihen*.
1974 wurde Hugh Walker Herausgeber der Taschenbuchreihe Terra Fantasy, in der er Autoren und Autorinnen wie John Jakes (die Geschichten um Brak, den Barbar), Andre Norton (Teile des Hexenwelt-Zyklus), Michael Moorcock (die beiden Runenstab-Zyklen), Leigh Brackett (die der Fantasy zuneigenden Marsgeschichten mit und ohne Eric John Stark), Thomas Burnett Swann, A. Merritt, Lin Carter (die Flashing-Swords- und Year’s-Best-Anthologien) und last but not least Robert E. Howard (die Geschichten über Kull, Solomon Kane, Bran Mak Morn und etliche nichtphantastische Stories) veröffentlicht und jeweils mit einem kurzen Vorwort vorgestellt hat (was im Prä-Internet-Zeitalter eine großartige Idee war), und in der nun endlich auch sein Magira-Zyklus seinen Platz fand.
Der Zyklus startete 1975 mit Reiter der Finsternis und wurde anfangs im Halbjahresrhythmus, später teilweise in etwas längeren Abständen mit Das Heer der Finsternis (1975), Boten der Finsternis, Gefangene der Finsternis (beide 1976), Stadt der Götter (1977), Dämonen der Finsternis (1978), Diener der Finsternis und Das Auge und das Schwert (beide 1979) fortgesetzt, hinzu kommt noch eine nur indirekt mit der Haupthandlung verbundene Novelle (“Die Rache der Toten”) in der Anthologie Schwerter, Schemen und Schamanen (1977). In dieser ersten, noch ganz der Tradition der Heroic Fantasy verpflichteten Version des Magira-Zyklus gerät Franz Laudmann, einer der Spieler des “Ewigen Spiels”, auf jene Spielwelt, deren Gott er doch eigentlich als Spieler sein müsste – schlimmer noch, er landet als Ketzer auf dem Altar der Äope, tief im Waldreich von Ish. Doch die junge Hohepriesterin Ilara erkennt, dass dieser auf ihrer Welt Frankari genannte Mann mehr ist als ein Ketzer, und daher flieht sie, die eigentlich das Menschenopfer vollziehen sollte, zusammen mit dem Fremden – und setzt damit Dinge in Bewegung, deren Auswirkungen auf Magira nicht abzusehen sind …
Was diese erste Inkarnation des Magira-Zyklus interessant macht, ist einerseits die ungemein dichte Atmosphäre, die Hugh Walker in den – vergleichsweise langsam erzählten – Bänden immer wieder heraufbeschwören kann, und andererseits das überaus plastisch und lebendig wirkende Setting. Hinzu kommen – neben Ilara und Frankari – Figuren wie Bruss, der immer zweifelnde und grübelnde Adept der Magie, oder die beiden Abenteuer Thorich und Thuon, und noch ein paar andere, und schließlich die schwer begreifbaren und fassbaren Mächte und Wesen wie die Mythanen oder der titelgebende Reiter der Finsternis. Auch wenn der Zyklus ab dem fünften oder sechsten Band spürbar an Stringenz verliert, ist er ein wunderbares Beispiel für frühe, nur ganz am Rande von amerikanischen Vorbildern beeinflusste deutsche Fantasy (und immerhin wurden die ersten drei Bände sogar ins Englische übersetzt).
Die Welt des Spielers von Hugh WalkerHugh Walker hat möglicherweise selbst gemerkt, dass ihm die Geschichte irgendwann ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist; zumindest würde das erklären, warum er den Zyklus nicht fortgesetzt hat. Und somit ist diese erste Version des Magira-Zyklus unvollendet geblieben – und der Fluch, der auf dem Zyklus zu liegen schien, hat dafür gesorgt, dass auch die späteren, deutlich überarbeiteten Versionen in der neu aufgelegten – und dieses Mal im Gegensatz zur Vorgängerreihe zumindest theoretisch auch über den Buchhandel vertriebenen und lieferbaren – Terra-Fantasy-Reihe nach drei Bänden (Die Welt des Spielers, Die ewige Schlacht (beide 1985) und An den Gestaden der Finsternis (1986)) bzw. der Hardcoverausgabe des HJB-Verlags (Die Welt des Spielers (1996)) nach einem Band (in dem aber die drei o.g. Romane enthalten sind) abgebrochen wurden.
Erst 2005/2006 erschien der sich deutlich von seiner ursprünglichen Version unterscheidende Magira-Zyklus erstmals vollständig in vier Bänden mit den Titeln Die Welt des Spielers, Die Macht der Finsternis (beide 2005), Die Stadt der Götter und Die Ufer der Wirklichkeit (beide 2006). Der Vergleich beider Versionen hat einen ganz eigenen Reiz, denn auch wenn die neue Version – zumindest vordergründig – immer noch in der Tradition der Heroic Fantasy zu stehen scheint, steckt in ihr doch wesentlich mehr, und sie wirft interessante Fragen auf.
Natürlich war Hugh Walker auch an der zweiten deutschen Fantasy-Heftserie Mythor beteiligt, sie beruht sogar zu einem wesentlichen Teil auf einem von ihm eingereichten Konzept, das allerdings abgewandelt wurde, um die Serie massenkompatibler zu machen. Hugh Walker schrieb den Auftaktband zwei Mal. Die eine Version ist im Frühjahr 1980 unter dem Titel Der Sohn des Kometen als Band 1 der Heftserie erschienen, die andere, ursprüngliche mit dem Titel Zauberei in Tainnia war lange Zeit nur als semiprofessionelle Ausgabe (im Magazin Magira #37 (1987)) verfügbar (bzw. eher nicht verfügbar). Diese Version wurde allerdings vor wenigen Wochen im Rahmen der Hugh-Walker-Werkausgabe beim Kleinverlag Emmerich Books & Media veröffentlicht, und auch hier ist ein Vergleich – nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, was (Heftroman-)Verlage für besser verkäuflich halten – höchst interessant. Und natürlich darf im Zusammenhang mit Mythor die “Subserie” um den Barbaren Nottr nicht unerwähnt bleiben, da diese Romane ein Highlight in der ansonsten immer mal wieder schwächelnden Serie um den “Sohn des Kometen” und seine vielen – vielleicht zu vielen – Gefährten waren.
Mythor - Der Sohn des KometenIn der oben bereits kurz erwähnten Werkausgabe wurde in den letzten knapp zweieinhalb Jahren ein großer Teil der nicht im Rahmen einer Serie geschriebenen Horror- und SF-Romane Hugh Walkers in ansehnlichen, häufig mit einem informativen Nachwort versehenen Ausgaben neu aufgelegt (die restlichen Titel werden in absehbarer Zeit folgen), was bei einem Autor, der in der deutschsprachigen Fantasy und im deutschsprachigen Horror aus gutem Grund eine Sonderstellung einnimmt, und dessen frühere Werke fast ausschließlich über den Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel vertrieben wurden, mehr als zu begrüßen ist.
Es gäbe noch viel über Hugh Walker zu sagen, der u.a. die Buchausgaben der beiden Fantasy-Serien Dragon und Mythor bearbeitet und Erstere mit einem runderen Abschluss versehen hat (sowie jeweils einen zusätzlichen Einzelroman – Krieger des Namenlosen (2001) bzw. Fluch der Schattenzone (2000) – verfasst hat), der im Rahmen der Terra-Fantasy-Reihe zusammen mit einem Co-Autor noch einen weiteren Kurzzyklus (Welt der Türme) veröffentlicht hat, und der mit seiner Arbeit als Autor und Herausgeber Pionierarbeit für die Fantasy in Deutschland geleistet hat, aber an dieser Stelle bleibt uns nur noch eins: Herzlichen Glückwunsch, Hugh!

* – von den sechzehn Romanen, die Hugh Walker zum Vampir Horror Roman beigesteuert hat, sind allein neun zwischen Band 1 und 50 erschienen

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Das Kaeferl schaut fern: Minuscule – Die Winzlinge

Es fängt alles ganz harmlos an: Ein Paar, das bald ein Kind erwartet, macht Picknick in einem idyllischen Bergwäldchen, Blumen blühen, die Luft ist lau, die Erdbeeren sind lecker … und eine Stunde später steckt man in einer epischen Schlacht zwischen Gut und Böse, Katapulte schießen Löcher in Mauern und Helden müssen den Pfad der Dunkelheit betreten, wenn sie siegreich sein wollen …

Dass ich ein Herz für Insekten habe, ist hinreichend bekannt. Zeichentrick- und Animationsfilme liegen mir ebenfalls am Herzen, schon rein berufsbedingt, aber auch, weil sie für mich viel, viel mehr als CGI-gepimpte Realfilme Horte der Fantasie sind, in denen alles möglich ist. Und außerdem gefallen mir clevere Analogien, wenn man Gegebenheiten aus unserem Kosmos in einen ganz anderen überträgt und irgendwie eine runde Sache draus macht. Deswegen stand gar nicht zur Debatte, ob ich mich um die Mittagszeit zusammen mit ein paar Kubikmetern Popcorn zum Familienevent in den Kinosaal begebe, um Die Winzlinge anzuschauen, die Geschichte einer Freundschaft zwischen einem Marienkäfer und einer Ameise, und die Geschichte des Wirbels um eine beim Picknick vergessene Zuckerdose, die letztlich einen Krieg zwischen zwei Ameisenstaaten auslöst.
Nun bin ich vielleicht marginal voreingenommen, wenn es um Käfer geht (die auch noch einen hohen Niedlichkeitsfaktor haben), aber ich bin der Meinung, dass Minuscule – La vallée des fourmis perdues, so der Originaltitel, tatsächlich nicht ganz uninteressant für Liebhaber des Phanastischen ist.

Minuscule ist dem Comickünstler Moebius gewidmet und war vor dem in Frankreich offenbar recht erfolgreichen Kinofilm schon als gleichnamige Fernsehserie für die ganz, ganz Kleinen bekannt, bei der (genauso wie beim Film) Hélène Giraud, die Tochter von Moebius, zusammen mit Thomas Szabo Regie führte. Die Filmchen kombinieren reale Naturaufnahmen mit animierten Insekten, die kleine Abenteuer erleben – eine Episode geht nur wenige Minuten und ist mitunter ganz charmant; als Erwachsener kann man das gut zum Runterkommen vor dem Einschlafen gucken. Im Format eines zweistündigen Films braucht es ein anderes Kaliber von Geschichte, und da funktioniert die altbewährte Heldenreise mit multikultureller Freundschaft ganz hervorragend.

Hierzulande fliegt Minuscule ein bisschen unter dem Radar und hat nach der goldenen Regel deutscher Filmverleihe einen Gaga-Untertitel („Operation Zuckerdose“) spendiert bekommen, aber das ist eigentlich völlig irrelevant, denn jetzt kommt der Clou: In Minuscule wird nicht gesprochen. Im Jahr 2016! Wird zwei Stunden lang kein Wort gesprochen! (Und es ist genial!)
Die Insekten verfügen über eine Geräuschpalette, die wir aus dem Transportwesen kennen, und zur Verständigung tröten, trillern und knarzen sie fröhlich vor sich hin. Außerdem kommt in dieser Konstellation der Filmmusik eine größere Rolle zu – und es ist ein unglaublich mitreißender Score von Hervé Lavandier, der sich in den richtigen Momenten bei seinen Vorbildern (Star Wars und anderen epischen Soundtracks) bedient, genauso wie die Geräuschkulisse korrespondierend zu den Bildern manchmal Herr der Ringe-artige Schlachten heraufbeschwört. Und das sind nicht die einzigen Anspielungen, die den Filmfreund bei Minuscule zum Grinsen bringen. Was muss das für ein Spaß gewesen sein, die Ideen auszubrüten, mit denen augenzwinkernd bekloppte Actionszenen, kultige Szenerien und episches Kampfgewusel nachgestellt wurden!

Das Fehlen der Dialog-Ebene lädt dazu ein, Geräusche, Gesichtsausdrücke, Haltungen und Atmosphäre zu interpretieren und unterstreicht die Distanz zur Insektenwelt. Besonders fällt die Diskrepanz zum sonstigen Wortschwall beim Animationsfilm im direkten Vergleich mit den Stakkato-Sprech-Trailern auf, die vor dem Film laufen und mit flotten Sprüchen und den Stimmen von allseits bekannten Quasselstrippen-Promis werben. Es ist beinahe mutig, unter diesen Konditionen einen „stummen“ Film ins Kino zu bringen, der den (kleinen) Zuschauern zutraut, dass sie das Hineinversetzen durchaus selbst ganz ohne Mittelsmann auf die Reihe kriegen.
Schwierig ist es nicht, denn Minuscule ist eine wunderbare Questen-Reise, die mit skurrilen Nebenfiguren und sogar einem Drachen aufwartet, erzählt mit sehr viel Herz und einem liebevollen Blick für Details. Altmodisch vielleicht sogar, denn der Film ist völlig ironiefrei, ein klassisches Märchen ohne doppelten Boden. Mit dieser Erwartungshaltung kann man guten Gewissens als Filmfan jeden Alters reingehen, wenn man den Trailer charmant findet. Er hält, was er verspricht.

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Zum 35. Geburtstag von Django Wexler

Bibliotheka Phantastika gratuliert Django Wexler, der heute 35 Jahre alt wird. In den letzten Jahren hat sich im englischen Sprachraum nicht nur das thematische und formale Spektrum der Fantasy deutlich erweitert, sondern es sind auch etliche neue Autorinnen und Autoren auf der Bildfläche erschienen, zu denen u.a. der am 13. Januar 1981 in San Francisco, Kalifornien, geborene Django Wexler zu zählen ist. Laut eigener Aussage hat Wexler bereits kurz vor der Jahrtausendwende zu schreiben begonnen, allerdings zunächst nur für die Schublade. Immerhin konnte er schon in seiner Studienzeit seine ersten beiden Romane Memories of Empire (2005) und Shinigami (2006) veröffentlichen, doch einem breiteren Publikum dürfte er erst bekannt geworden sein, als 2013 The Thousand Names erschien, der Auftaktband eines fünfteiligen Zyklus mit dem Titel The Shadow Campaigns.
The Thousand Names von Django WexlerThe Thousand Names führt uns nach Khandar – eine öde, von Wüste umgebene Kolonie des jenseits des Meeres gelegenen Vordanai Empire – wo gerade eine Rebellion stattgefunden hat; eine Koalition aus religiösen Fanatikern, meuternden khandarischen Truppen und von dem nur maskiert auftretenden, geheimnisvollen Steel Ghost angeführten Wüstenstämmen hat Prince Exopter, den als Marionette der Kolonialherren dienenden Herrsches des Landes, mitsamt den ihn unterstützenden Kolonialtruppen aus der Hauptstadt bzw. aus dem Land gejagt. Schlechte Aussichten für Captain Marcus d’Ivoire, der eigentlich gehofft hatte, in diesem abgelegenen Winkel des Imperiums eine ruhige Zeit bis zu seiner Pensionierung zu verbringen, und der sich jetzt mit seinen Männern in ein heruntergekommenes Küstenfort zurückziehen und auf Entsatz aus seiner Heimat hoffen muss. Und tatsächlich kommen nach relativ kurzer Zeit frische – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie bestehen fast ausschließlich aus Frischlingen ohne jede Kampferfahrung – Truppen, deren Anführer, Colonel Janus bet Vhalnich, fest entschlossen ist, Khandar trotz der enormen zehlenmäßigen Überlegenheit der Rebellen zurückzuerobern und Prince Exopter wieder auf seinen Thron zu setzen. Dass er noch ein weiteres Ziel hat, begreift Marcus erst, als der Kampf um Khandar längst im Gange ist …
Die Zahl der auf den Seiten des Buches ausgefochtenen Schlachten und Kämpfe macht The Thousand Names zu einer Military Fantasy – und die Waffen, die dabei zum Einsatz kommen, machen es zu einer Flintlock Fantasy, denn die Geschichte ist nicht in einer mittelalterlichen, sondern in einer moderneren Epoche angesiedelt, die mehr oder weniger dem Napoleonischen Zeitalter entspricht (was nicht zuletzt damit zu tun haben dürfte, dass The Thousand Names ursprünglich als eine Art Fantasy-Version von Napoleons Ägyptenfeldzug geplant war). Wer also Schlachten mag – oder Geschichten, in denen Armeeangehörige vom in Ehren ergrauten Veteran bis zum unerfahrenen Rekruten eine wichtige Rolle spielen – kommt in diesem Roman voll und ganz auf seine Kosten. Darüberhinaus kann Django Wexler nicht nur Schlachten beschreiben, sondern auch glaubwürdige, interessante Figuren entwerfen, darunter mit dem moralisch integren Marcus d’Ivoire und der als Mann verkleideten Winter Ihernglass die beiden wichtigsten Erzähler der Handlung. Vor allem Winter, die sich dieses Tricks bedient hat, um einer trostlosen Zukunft zu entfliehen, und die versucht, sich möglichst unauffällig zu verhalten, um ihr Geheimnis zu bewahren (was ihr durch mehrere Beförderungen zunehmend erschwert wird), gewinnt im Laufe der Geschichte mehr und mehr an Konturen und spielt am Ende sogar eine wichtige Rolle, wenn es um das große Geheimnis der “thousand names” geht.
Unterm Strich lässt sich sagen, dass The Thousand Names einen vielversprechenden Auftakt zu einem Zyklus darstellt, der mit einem überzeugend geschilderten, etwas anderen Setting und klar gezeichneten Figuren sowie ersten Hinweisen darauf, in welche Richtung sich das Ganze weiterentwickelt, aufwarten kann. Während in England und den USA bereits die Fortsetzungen The Shadow Throne (2014) – in dem sich das Geschehen ins Vordanai Empire verlagert – und The Price of Valor (2015) erschienen sind (und zwei als Prequels dienende Erzählungen in eBook-Form), ist hierzulande mit Die tausend Namen (2014) bislang nur der erste Band des Zyklus auf den Markt gekommen.
Außer den ersten drei Bänden von The Shadow Campaigns hat Django Wexler in den letzten Jahren mit The Forbidden Library (2014) und The Mad Apprentice (2015) die ersten beiden Bände eines Jugendbuch-Mehrteilers und mit John Golden & the Heroes of Mazaroth (2014) eine Art Cyberpunk-Fantasy veröffentlicht, und man darf gespannt sein, was von diesem immer noch vergleichsweise jungen Autor in Zukunft noch zu erwarten ist.

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Zum 110. Geburtstag von John Myers Myers

Bibliotheka Phantastika erinnert an John Myers Myers, dessen Geburtstag sich heute zum 110. Mal jährt. Der am 11. Januar 1906 in dem Dörfchen Northport auf der Insel Long Island geborene John Myers Myers wusste schon im Alter von sieben Jahren, dass er eines Tages Schriftsteller sein wollte, doch nach einem abgebrochenen Anthropologie-Studium und ausgedehnten Reisen durch die USA und Europa arbeitete er zunächst einige Zeit als Journalist und Werbetexter. Während des Zweiten Weltkriegs diente er fünf Jahre in der U.S. Army, und in dieser Zeit erschien sein erster Roman The Harp and the Blade (1941), der im mittelalterlichen Frankreich spielt und – je nach Sichtweise – nur marginale oder überhaupt keine phantastischen Elemente enthält.
Nach zwei weiteren, dieses Mal eindeutig rein historischen Romanen, die im elisabethanischen England bzw. in der Pionierzeit an der Mississippi frontier angesiedelt waren, veröffentlichte Myers mit Silverlock (1949) jenes Buch, das ihm zumindest im englischen Sprachraum bis heute andauernden Ruhm beschert hat. Silverlock von John Myers MyersSilverlock ist die – von ihm selbst erzählte – Geschichte des Betriebswirts A. Clarence Shandon, eines anfangs ebenso selbstsüchtigen wie merkwürdig apathisch und teilnahmslos wirkenden Mannes, der an Bord der Naglfar Schiffbruch erleidet und sich lange genug schwimmend über Wasser halten kann, bis er auf einen Mann stößt, der sich an ein Wrackteil klammert und anscheinend ebenfalls ein Schiffsunglück überlebt hat. Der Mann stellt sich als Boyan Taliesin Golias vor – eigentlich hätte er noch mehr Namen, wird aber meistens ohnehin nur Golias genannt – und meint, dass sie gute Aussichten hätten, die Küste des Commonwealth zu erreichen (mit dem Zusatz: “I speak figuratively”). Nachdem die beiden Männer aus der Ferne Zeuge geworden sind, wie ein weißer Wal ein Schiff in die Tiefe zieht, gelangen sie zu einer Insel, die allerdings nicht zu der von Golias als Commonwealth bezeichneten Landmasse gehört, sondern Teil eines vorgelagerten Archipels ist. Dummerweise macht Shandon der auf ihr lebenden Frau reichlich plumpe Avancen, und nur sein neuer Freund Golias bewahrt ihn vor dem Schicksal, in ein Schwein verwandelt zu werden. Sie ziehen weiter zur nächsten Insel, auf der sie ominöse Fußspuren entdecken – und feststellen müssen, dass ihr gelegentlich Kannibalen einen Besuch abstatten. Bald darauf nimmt sie ein Langschiff an Bord, das von Brodir Hardsark befehligt wird; sie müssen ebenso wie die Wikinger an den Rudern arbeiten – und dann bei einem Überfall auf Irland mitmachen …
Wer jetzt stutzt, weil ihm oder ihr ein paar Dinge merkwürdig vorkommen – ein Schiff namens Naglfar etwa, oder weiße Wale, die Schiffe in die Tiefe ziehen, Inseln, auf denen Männer in Schweine verwandelt werden, wenn sie sich danebenbenehmen oder andere einsame Inseln, die überraschend von Kannibalen besucht werden – stutzt zu recht. Denn die Insel, die Golias als Commonwealth bezeichnet hat und auf der Shandon nach dem Überfall tatsächlich ankommt, ist ein ganz besonderer Ort; sie ist der Commonwealth of literature – oder, um es mit dem deutschen Titel des Buchs zu sagen: Die Insel Literaria (1984). Und auf ihr begegnet der wegen einer weißen Strähne alsbald nur noch Silverlock genannte Shandon, der während des Kampfes von Golias getrennt wurde, aber bereits begonnen hat, sich zu verändern und daher die eigentlich für ihn untypische Entscheidung trifft, nach dem Barden zu suchen, allen möglichen Figuren und Wesen der Weltliteratur von Beowulf über Robin Hood bis zu Don Quichotte und vielen, vielen anderen (die mal leicht und mal kaum zu erkennen sind) und lernt Orte wie den Wald von Broceliande oder Dantes Hölle kennen. Und er verändert sich, wird durch die Begegnung mit den Figuren aus dem Commonwealth of literature (wobei man das erste Wort auch als “common wealth” lesen kann) von einem Unsympathen zu einem richtig netten Kerl, den man dann auch gerne bei seinen Abenteuern begleitet (denn Myers lässt die bekannten Figuren nicht einfach so nacheinander auftreten; das Ganze ist schon in eine zwar nicht vordergründig spannende, aber abwechslungsreiche und farbige Handlung eingebunden). Wer sich gerne auf Spurensuche begibt, kann an Silverlock viel Spaß haben – auch wenn nur die wenigsten es schaffen dürften, die ganzen Andeutungen und Verweise zu entschlüsseln. Hier hilft dann zur Not Silverlock – Including the Silverlock Companion (2004) weiter, eine wirklich schön gemachte Ausgabe mit mehreren Vorworten und einem umfangreichen Anhang (zu dem auch der “Companion” zählt).
Nach Silverlock hat Myers noch zwei Western, vor allem aber Sachbücher über den “Wilden Westen” geschrieben (darunter eine Biographie über Doc Holliday). Erst 1981 ist er mit The Moon’s Fire-Eating Daughter noch einmal zur Fantasy zurückgekehrt. Der Roman wurde vom Verlag als Fortsetzung zu Silverlock vermarktet – was er nicht ist. Aber es gibt zwischen den beiden Romanen interessante Parallelen: Während der anfangs nur mit einem Abschluss in Betriebswirtschaft “bewaffnete” A. Clarence Shandon in Silverlock eine geografische Reise durch die ihm größtenteils unbekannten Lande der Literatur unternimmt und dabei in erster Linie auf fiktive Figuren trifft, begibt sich der seines alltäglichen Daseins ein wenig überdrüssige Dr. George Puttenham in The Moon’s Fire-Eating Daughter auf eine Zeitreise durch die Literaturgeschichte und begegnet vielen von den Schöpfern, die zu diesem “common wealth” beigetragen haben.
Aber letztlich dürfte der Name des am 30. Oktober 1988 verstorbenen John Myers Myers in erster Linie und fast ausschließlich mit Silverlock in Verbindung gebracht werden – einem Roman, den man mit einer gewissen Berechtigung als erste Meta-Fantasy bezeichnen könnte (und der witzigerweise schon zu einem Zeitpunkt erschienen ist, an dem das einflussreichste Werk des Genres noch gar nicht auf dem Markt war).

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Zum 75. Geburtstag von Niel Hancock

Bibliotheka Phantastika erinnert an Niel Hancock, der heute 75 Jahre alt geworden wäre. Dass der am 08. Januar 1941 in Clovis, New Mexico, geborene Niel Anderson Hancock am gleichen Tag (wenn auch in einem anderen Jahr) Geburtstag hat wie Terry Brooks, ist nur eine der beiden Gemeinsamkeiten, die es zwischen den beiden Autoren gibt; die zweite, wesentlich wichtigere ist, dass Hancock im Jahr 1977 einen Fantasyroman – genauer gesagt vier – veröffentlicht hat, der sich ebenso wie Brooks’ The Sword of Shannara an eine Leserschaft richtete, die auf der Suche nach weiteren Geschichten im Stil von J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings war. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten dann auch schon, denn während Terry Brooks mit The Sword of Shannara den Grundstein zu einer Karriere legte, die ihn zu einem der wichtigsten (oder zumindest erfolgreichsten) Fantasy-Autoren der 80er und 90er Jahre machen sollte, ist Niel Hancock heutzutage vergessen. Und zwar so sehr vergessen, dass er nicht einmal mehr erwähnt wird, wenn es um jenes für die Fantasy so bedeutungsvolle Jahr 1977 geht.
Denn 1977 sind – aus heutiger Sicht unfassbar lange zwölf Jahre, nachdem die amerikanische Taschenbuch-Ausgabe des Lord of the Rings zum Bestseller geworden war – gleich mehrere Romane (bzw. genauer gesagt ein Roman und zwei Mehrteiler) erschienen, die eindeutig vom LotR … nennen wir es inspiriert waren* und deren Erfolg eine Zeitenwende ankündigte, denn nach 1977 ist die bis dahin auf dem Buchmarkt vorherrschende Sword & Sorcery nach und nach so ziemlich verschwunden (von wenigen Ausnahmen abgesehen) und die Epic Fantasy wurde zu einem als solches vermarktbaren Genre**. Brooks’ The Sword of Shannara und Stephen R. Donaldsons The Chronicles of Thomas Covenant the Unbeliever sind auch heute noch vielen Fantasylesern und -leserinnen ein Begriff, gehören mehr oder weniger zum Kanon der Epic Fantasy – aber wer kennt noch Niel Hancocks Circle of Light? Und dabei warb gerade dieser Zyklus mit dem Aufdruck “Beginning a great saga for all who love THE LORD OF THE RINGS!”*** und war sogar anfangs recht erfolgreich°.
Fragonards Faringay von Niel HancockWarum ist Circle of Light dann also so spurlos von der Bildfläche verschwunden? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich den Zyklus ein bisschen genauer ansehen. Dessen erster Band Greyfax Grimwald beginnt damit, dass ein Bär, ein Zwerg und ein Otter ihre jeweiligen Behausungen am Rand der jenseits des großen Flusses Calix Stay gelegenen Meadows of the Sun verlassen, weil sie eine schwer erklärbare Unruhe verspüren und das Gefühl haben, sich auf eine Queste begeben zu müssen. Nachdem sie sich kennengelernt haben, überqueren sie gemeinsam Calix Stay und gelangen so ins Land der Lebenden – aber nicht, um dort wie sonst wiedergeboren zu werden und ein neues Leben zu beginnen; stattdessen bleiben sie die gleichen Individuen, die sie zuvor waren, und sind bereit zu Heldentaten aller Art. Die Meadows of the Sun sind nämlich eine Art Jenseits, in dem die Zeit keinerlei Rolle spielt, während Atlanton – die Welt der Lebenden – einer jener Orte ist, an denen alle möglichen Lebewesen unzählige Reinkarnationszyklen durchlaufen. Und außerdem das Schlachtfeld, auf dem Lorini, the Queen of Light, und ihre Zwillingsschwester Dorini, the Queen of Darkness, die uralte Fehde zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse austragen. Kurz nach der Überquerung von Calix Stay treffen Bär, Zwerg und Otter – die passenderweise auch so heißen (nein, das stimmt nicht ganz, der Zwerg heißt Broko, wird aber meistens nur Zwerg genannt)°° – auf zwei Magier, den alten Greyfax Grimwald und seinen jungen Begleiter Faragon Fairingay, die beide Mitglieder des titelgebenden “Circle of Light” sind; sie erzählen den Gefährten vom Kampf zwischen Lorini und Dorini und geben ihnen den Rat, sich irgendwo niederzulassen und darauf zu warten, dass sie gebraucht werden. Nach einem kurzen Abstecher zur Ruine eines alten Zwergenhauses siedeln sich die drei in einem abgelegenen bewaldeten Tal an und warten – insgesamt fünfzehn Jahre, denn Greyfax Grimwald und Faragon Fairingay sind nach Cypher aufgebrochen, ins Reich Lorinis, und dort vergeht die Zeit anders als in der Welt der Lebenden. Doch dann kehrt Greyfax zurück und übergibt Broko ein kleines Kästchen – das Arkenchest –, das Dorini auf gar keinen Fall in die Finger bekommen darf, denn sonst wird Atlanton untergehen. Dummerweise wird Broko kurz darauf von einem gar schrecklichen Schergen Dorinis gefangengenommen – und damit geht der Ärger dann so richtig los, der sich auch durch die (alle ebenfalls 1977 erschienenen) Folgebände Faragon Fairingay, Calix Stay und Squaring the Circle zieht …
Wie man vielleicht schon anhand dieser Inhaltsangabe von knapp der ersten Hälfte des ersten Bands erahnen kann, ist das Ganze … sagen wir merkwürdig. Hancock, ein Vietnam-Veteran, der während seiner Zeit in Südostasien mit dem Buddhismus in Berührung gekommen war und sich – fasziniert von den buddhistischen Lehren – auch danach weiter mit ihm beschäftigt hat, hatte ursprünglich vor, ein Kinderbuch zu schreiben, das gewisse buddhistische Prinzipien und Weisheiten aufgreift, sie aber in das Gewand einer Fantasygeschichte hüllt, doch er konnte das Manuskript an keinen Kinder- und Jugendbuchverlag verkaufen. Dass die Geschichte eigentlich für Kinder gedacht war, erklärt vermutlich den schlichten Stil und Erzählduktus; so sind die drei Gefährten allenfalls skizzenhaft charakterisiert – der Zwerg ist eher nachdenklich, der Bär manchmal brummig und immer hungrig, und der Otter verspielt und neugierig – und Bär und Otter verhalten sich so gar nicht wie Tiere, ernähren sich am liebsten von Tee, Plätzchen, Honig und einem gelegentlichen Schinkensandwich. Oder, ein bisschen anders ausgedrückt: Man hat permanent das Gefühl, als würden die Figuren aus The Wind in the Willows in einer Art Hobbit-Rolle in einem vage an The Lord of the Rings erinnenden Szenario auftreten.
Interessant ist natürlich außerdem die Frage, wie die als Zielgruppe gedachten Kinder denn die ganzen Anspielungen auf den Buddhismus hätten erkennen oder verstehen sollen, die manche Geschehnisse durchaus in einem anderen Licht erscheinen lassen bzw. sie leichter verständlich machen. Aber da Hancocks spirituelle Fantasy – und dass Circle of Light tatsächlich eine ist, wird spätestens am Ende von Band vier deutlich – zumindest in den 70ern und 80ern vermutlich eher von erwachsenen (oder jugendlichen) Fantasyfans gelesen wurde als von Kindern, ist diese Frage letztlich belanglos. Immerhin ist es ihm gelungen, auf Circle of Light (die Tetralogie, die eigentlich den Abschluss seines weitgespannten Zyklus Atlanton Earth bildet) zunächst mit Dragon Winter (1978) einen Einzelband und danach zwei weitere Tetralogien folgen zu lassen: The Wilderness of Four (Einzeltitel: Across the Far Mountain, The Plains of the Sea, On the Boundaries of Darkness (alle 1982) und The Road to the Middle Islands (1983)) führt dabei in die tiefste Vergangenheit von Atlanton Earth und erzählt die Geschichten ihrer größten mythischen Helden, während The Windameir Circle (The Fires of Windameir (1985), The Sea of Silence (1987), A Wanderer’s Return (1988) und The Bridge of Dawn (1991)) zeitlich irgendwo zwischen der ersten und der zweiten Tetralogie angesiedelt ist.
Interessanterweise haben es Circle of Light (als Der Kreis des Lichts: Greyfax Grimwald, Faragon Fairingay, Calix Stay, der große Fluss und Der Kreis schließt sich (alle 1985)), Dragon Winter (als Drachenwinter (1986)) und The Wilderness of Four (als Die Saga von Atlanton: Weit über die fernen Berge, Bis zum wilden Meer, An den Grenzen der Finsternis und Auf dem Weg zu den friedlichen Inseln (alle 1986)) auch nach Deutschland geschafft.
Calix Stay von Niel HancockAbschließend wäre vielleicht noch zu sagen, dass Niel Hancocks Atlanton Earth gewiss zu den merkwürdigeren Fantasywerken gehört (wenn auch nicht zu den merkwürdigsten); auf der anderen Seite kann man dem Zyklus trotz all seiner Schwächen und Mängel einen gewissen eigenartigen Charme nicht absprechen. Und vollkommen vergessen zu werden, haben diese Romane, in denen es auch Innovationen wie Feuerwaffen benutzende Böse gibt, ebensowenig verdient wie ihr am 07. Mai 2011 im Alter von 70 Jahren während einer Motorradtour an einem thorakalen Aortenaneurysma verstorbener Autor; immerhin waren sie lange Jahre die einzige echte auf der spürbaren inneren Überzeugung ihres Schöpfers gründende spirituelle Fantasy – auch wenn viele Leser und Leserinnen das möglicherweise gar nicht erkannt haben.

* – es hat natürlich auch schon vor 1977 Romane und Zyklen gegeben, in denen bestimmte Themen und/oder Elemente, die Tolkien in der Ringtrilogie verwendet hat, vorgekommen sind, doch niemand würde ernsthaft behaupten, dass z.B. Ursula K. Le Guins ursprüngliche Earthsea Trilogy (1968-72) oder Patricia A. McKillips The Riddle-Master of Hed (1976) ähnlich starke Tolkien-Einflüsse aufweisen wie die Romane/Zyklen von Brooks, Donaldson und Hancock; ich habe übrigens eine Theorie, warum es so lange gedauert hat, bis die ersten echten Tolkien-Nachfolger erschienen sind – aber die muss warten, bis ich irgendwann mal dazu komme, meine in Fragmenten schon existierende Artikelreihe über die Entwicklung der Fantasy endlich mal weiter- und fertigzuschreiben
** – sowohl auf dem Cover von Brooks’ Sword of Shannara wie auf den Titelbildern der HC-Ausgabe von Donaldsons Chronicles of Thomas Covenant the Unbeliever prangte der Zusatz “An Epic Fantasy”
*** – daraus wurde dann ab dem zweiten Band “The great new saga for all who love THE LORD OF THE RINGS!”
° – eine Ausgabe von etwa Mitte der 80er Jahre trug den Aufdruck “The bestselling series – over one million in print”
°° – in der deutschen Ausgabe haben lustigerweise auch der Bär und der Otter Namen, wobei man immerhin mit Bruinlen und Olther dem Prinzip der auch sonst gern genutzten Alliteration treu geblieben ist

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