Zeit und Welt genug

Zeit und Welt genug von James KahnAls der junge Mensch Josh eines Tages seine Familie grausam von einem Vampir und seinen Spießgesellen ermordet vorfindet – die jüngeren Verwandten sind entführt – schwört er, die unglückseligen Wesen zur Strecke zu bringen. Sein bester Freund Beauty, ein Zentaur, dessen Frau ebenfalls entführt wurde, begleitet ihn auf die Jagd. Unterwegs treffen sie in einer Welt, die der unseren nur noch entfernt ähnelt und von Fabeltieren bewohnt ist, auf seltsame Weggefährten und geraten an skurrile Orte. Schließlich stoßen sie auf ein Gerücht von einem “neuen Tier”, das die Entführung ihrer Liebsten angezettelt haben soll. Verzweifelt versuchen sie, in den Süden zu gelangen, und haben Unterstützung durch die Neuromenschenfrau Jasmine und den Vampir Lon…

-Ein voller, tiefer Schrei des Wahnsinns zerriß die Nacht. Es war ein blinder, nicht menschlicher Laut, grauenhaft und abgerissen.-
Prolog

Das Einbringen des Öko-Gedankens in die Fantasy ist ein wiederkehrendes Motiv; unter den deutschen Autoren hat jüngst Tobias O. Meißner mit seiner Mammut-Reihe Lob für seine originelle Verbindung des phantastischen Genres mit der Thematik Umweltschutz eingeheimst. Dabei ist er längst nicht der erste, der diese Idee verfolgt, denn in der ersten Hochphase eines sich neu entwickelnden Umweltbewußtseins in den 80ern haben schon allerlei Autoren beide Themen verknüpft, und einer von ihnen ist James Kahn, dessen Roman Zeit und Welt genug (World Enough and Time) man seine Entstehungszeit in einer Epoche von Atom-Ängsten und langsam aufkommenden Fragen rund um das Thema Bioethik mehr als deutlich anmerkt.
Die Neue Welt ist eine post-apokalyptische Version Kaliforniens, in der die Menschheit seit den 1960er Jahren degenerierte und sich nun mit Fabelwesen und intelligenten Tieren in einem trügerischen Frieden befindet – eher auf dem Rückzug als auf dem Vormarsch.

Die Handlung an sich ist schnell erklärt und macht nicht viel her: Ihre Queste – die Befreiung der von Vampiren verschleppten Angehörigen – führt den Zentauren Beauty und den Menschen Josh durch das ganze Land, immer auf der Spur der Entführer, und unterwegs reihen sich die Abenteuer in der teils ursprünglich-natürlichen, teils technisch geprägten Welt aneinander.
Diese Welt hat in der Tat einige interessante Aspekte zu bieten: Nach und nach kommt heraus, daß die Menscheit ihren Fall höchstselbst verursacht hat, und die ganzen skurillen Geschöpfe und Fabeltiere Resultate einer bedenkenlos angewandten Gentechnik sind – nur ist dieses Wissen fast verloren gegangen, als das Schreiben und Lesen verboten wurde – und all die neuen Lebewesen haben eigene Schöpfungsmythen erfunden und reagieren höchst ungehalten auf diese Erkenntnisse.
Das sind durchaus interessante Ansätze, die hin und wieder auch sehr charmant fortgeführt werden, aber in weiten Teilen schafft Kahn es nicht, wirklich aus diesem Potential zu schöpfen – zu viele verschiedene und zu schnell aufeinanderfolgende Aspekte spielen in die stark dem Reisemotiv verpflichtete Handlung hinein, als daß auf Einzelheiten eingegangen werden könnte. Wenn man aber grundsätzlich an post-apokalyptischen Weltentwürfen interessiert ist, lohnt sich ein Blick in das Buch (und auch in die darin enthaltene Zeitleiste – will man sich nicht zu viel der Handlung vorweg nehmen, allerdings am besten erst nach der Lektüre des Romans).

Daß Kahn so viel Stoff in nicht einmal 300 Seiten gepackt hat, hindert ihn auch daran, dicht an die Figuren zu kommen; überhaupt wirkt die ganze Geschichte wie eine etwas unausgegorene und zerfahrene Aneinanderreihung von Ereignissen, mehr der Idee als der Handlung verpflichtet. Man könnte meinen, der Hauptprotagonist des Romans sei das neue Kalifornien selbst, denn das Vorstellen von Schauplätzen nimmt mehr Raum ein als der schwache Handlungskern, aus dem nie ein richtiger Lesefluß erwächst.
Trotzdem hat der Autor sowohl der Welt als auch den Figuren auch noch einen psychologischen Überbau verpaßt, so daß alle Charaktere im Laufe der Abenteuer auch eine Reise zur Selbsterkenntnis unternehmen – aufgrund der Fülle der Ereignisse eben auch ein eher dünnes Konstrukt, das vielleicht der Entstehungszeit geschuldet ist: Der erhobene Zeigefinger im Hintergrund läßt sich auf jeden Fall nicht leugnen.

Bis auf ein paar charmante Ideen und einen streckenweise interessanten, aber in der Ausführung nicht so recht überzeugenden Weltentwurf bleibt also nicht viel übrig, das richtig Freude beim Lesen macht. Und wer sich ob des lyrischen Titels (aus der ersten Zeile eines Gedichts von Andrew Marvell) eine sprachlich lohnende Lektüre erwartet, muß sich auf eine Enttäuschung gefaßt machen: Zumindest in der deutschen Übersetzung holpern die Sätze meistens eher vor sich hin und lassen an Rotstifte statt an Poesie denken…
Der Zahn der Zeit hat rundum ordentlich an diesem Roman genagt, daher dürfte er in erster Linie für Nostalgiker und unerschrockene Weltentdecker von Interesse sein.

Stand: 27. Oktober 2012
Originaltitel: World Enough and Time
Erscheinungsjahr: USA 1981, D 1982
Verlag: Goldmann
Übersetzung: Tony Westermayr
ISBN: 3-442-23810-2
Seitenzahl: 314