The Six-Gun Tarot

The Six Gun Tarot von R. S. BelcherMehr tot als lebendig kommt der junge Jim mit seinem treuen Pferd nach der Durchquerung der 40-Meilen-Wüste in Golgotha an, einem Western-Kaff, wie es im Buche steht. Oder vielleicht doch nicht ganz? Es ist auf jeden Fall einiges faul in dem Örtchen, in dem sich zwischen mormonischen Stadtvätern, einem offenbar unsterblichen Sheriff, einem Gemischtwarenhändler mit frankenstein’schen Ambitionen und einer Bankiersgemahlin mit eindeutig zu vielen Messer in der Tasche etwas Böses herumtreibt. Aber auch Jim schleppt ein magisches Artefakt (und ein hohes Kopfgeld, das auf ihn ausgesetzt ist) mit sich herum, und versucht kurzerhand Fuß zu fassen.

-The Nevada sun bit into Jim Negrey like a rattlesnake. It was noon. He shuffled forward, fighting gravity and exhaustion, his will keeping him upright and moving.-
The Page of Wands

Wenn die Fantasy den wilden Westen erobert und damit zwei bildgewaltige, abenteuerliche und kontrastreiche Genres aufeinandertreffen und in einer konzertierten Aktion Zombies, Viehbarone oder Aliens niedermachen, geht es meist ziemlich hoch her. Und wenn man schon mal dabei ist, den Western phantastisch aufzuladen, kann man ja auch gleich noch etwas mehr hinein packen. Und dann nochmal ein Schippchen obendrauf legen.
Das war wohl R.S. Belchers Devise für sein Romandebüt The Six-Gun Tarot, dem man locker eine ausufernde Genrebezeichnung überstülpen könnte, bei der EU-Gesetzgebungs-Bandwurmwörter im Längenvergleich beschämt von dannen ziehen müssten.
Der Roman empfängt Leser und Leserinnen zunächst mit charmant und stilvoll umgesetzten Western-Klischees und einem bunten Figuren-Ensemble, das trotz des rauen Tons, der in Golgotha mitunter angeschlagen wird, eine gewisse Wärme ausstrahlt. Es ist zwar nicht gerade ein idyllisches Western-Städtchen-Leben, aber ein mehr oder weniger respektvoller Umgang, was sich zwischen den Einwohnern abspielt … als da wären: Der junge Neuankömmling (mit finsterer Vergangenheit), der strahlend gute Sheriff (mfV), der zwielichtige Saloon-Betreiber (mfV), die Bankiersgattin (mfV), die Minenarbeiter (mfV), der Bürgermeister (mit Leiche im Keller), der Gemischtwarenhändler (mit Leiche im Speicher), der indianische Hilfsheriff (mit fragwürdiger, vierbeiniger Abstammung), die freundliche Witwe (völlig geheimnis- und leichenfrei). Und das, liebe Leserinnen und Leser, waren noch lange nicht alle Figuren, aus der Perspektive The Six-Gun Tarot erzählt wird.

Eine Weile funktioniert das sehr gut, die Spannung des Romans bezieht sich aus dem Setting und den Figuren. Doch die Masse an Personal und sonstigen Versatzstücken – denn jede Figur bringt eine eigene interessante Geschichte mit neuen Elementen mit – geht schnell auf Kosten der Tiefe und des Tempos.
Dabei machen viele der einzelnen Ideen großen Spaß: Mutt, der Hilfsheriff mit Coyotenverwandtschaft, ist eine gelungene (als Indianer doppelte) Außenseiterfigur, die mehr schlecht als recht in einer kleinen Nische der Gesellschaft zurechtkommt. Der Auftritt einer feministischen Super-Oma bringt die Lage von Frauen im 19. Jahrhundert (und weit darüber hinaus) perfekt auf den Punkt. Die mormonischen Stadtväter von Golgotha (durch deren Ränge sich einige hochinteressante Brüche ziehen) passen nicht nur zur religiös aufgeladenen Haupthandlung, sondern tragen mit dazu bei, aus Golgotha ein hyperamerikanisches Kaff zu machen, das nur von Leuten bewohnt wird, die sich schlicht weigern, aufzugeben.
Bisweilen stellt Belcher einen liebevollen Blick für Details und Charakterentwicklung zur Schau, aber eben nur punktuell. Er schafft es nicht ganz, alles zu einer Einheit zusammenzufügen. Im Gegenteil laufen viele Figurengeschichten ein bisschen ins Leere, während sie gleichzeitig aber auch die Haupthandlung sabotieren, die in ihrer schöpfungsgeschichtlichen Grundannahme eigentlich gewaltig genug ist, allein mehr als einen knapp 400seitigen Roman zu tragen. Der mythische Hintergrund der Geschehnisse in Golgotha ist eine spannende Sache, verliert sich aber im Kuddelmuddel aus Einzelideen.

Hinzu kommen ein paar kleinere Probleme technischer Natur – ob es nun die sich in mehreren Handlungssträngen schnell abnutzende Motivation durch die Kinder der Hauptfiguren ist, oder Dialoge, in denen Belcher seine Helden allzu sehr den Erklärbär geben lässt und dazu auch mal unschön aus der Perspektive fällt.
Inmitten der Infodumps und während das Ganze mit immer neuen Figuren in die Breite geht, flaut die Spannung schnell ab, und man braucht schon eine ausdauernde Freude an neuen Ideen, um am Ball zu bleiben.
The Six-Gun Tarot ist trotz allem ein Roman, den man nur ungern in die Pfanne haut, denn er krankt an einem Autor, der sich redlich bemüht und dabei vieles gut gemacht hat. Aber es sind genau jene vielen zu komplexen und differenzierten Geschichten, die fast alle lobenswert anders sein und ihre Klischees auf den Kopf stellen wollten, die das Debüt letztlich im Graben enden lassen.
R.S. Belcher ist aber trotzdem ein Autor, den man sich merken sollte – vielleicht, wenn er aus seinen hervorragenden Zutaten erst mal Bohnen mit Speck statt ein Zehn-Gänge-Menü kocht.

Stand: 07. November 2013
Erscheinungsjahr: USA 2013
Verlag: Tor
ISBN: 978-0765329325
Seitenzahl: 364