Mainspring

Mainspring von Jay LakeDem jungen Uhrmacherlehrling Hethor erscheint ein Engel mit der Aufgabe, den drohenden Weltuntergang abzuhalten: Die Uhrfeder der Welt muß wieder aufgezogen werden, sonst läuft der Mechanismus aus, der die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne hält. Beherzt zieht Hethor los, als erstes zum Hof von Boston, um den englischen Vizekönig von seiner Mission zu überzeugen und um Hilfe zu bitten. Dort ist er aber leider an der falschen Adresse, wird verlacht und schließlich ins Gefängnis geworfen, denn manche erkennen in seiner Mission auch eine Gefahr. Doch so schnell gibt Hethor nicht auf, und er kann auch auf einige geheime Unterstützer zählen …

-The angel gleamed in the light of Hethor’s reading candle bright as any brasswork automaton.-
One

Luftschiffe? Oh ja, ganz genau so, wie es wunderbar von Stephan Martiniere auf dem Cover in Szene gesetzt wurde. Zahnräder? Die größten und wichtigsten, die man sich vorstellen kann, denn sie halten die Welt in Bewegung und sorgen dafür, daß das Universum als göttliches Uhrwerk funktioniert. Entdeckungsfahrten? Hinter den himmelhohen Wällen des Äquators wartet die unerforschte Südhalbkugel, eine Welt, in der die Zivilisation noch nicht angekommen und Magie die treibende Kraft ist.
Mit kleinen Einsprengseln aus der (Kultur-)Geschichte unserer Welt und viel, viel Erfindungsreichtum hat Jay Lake das Konzept “Steampunk” komplett auf die Spitze getrieben: In einer Welt, in der das britische Empire – dessen Klassengesellschaft von Charles Dickens importiert sein könnte – noch über Nordamerika als Kolonie verfügt, kreist die Erde auf einer metallenen Umlaufbahn um die Sonne, und wenn unser verwaister Held Hethor ganz genau hinhorcht, kann er um Mitternacht die Zahnräder einrasten hören.
Dieses mechanistische Weltbild, dessen Beweis göttlicher Schaffenskraft nachts jedem vor Augen steht, hat theologische Konsequenzen, von denen die Kreationisten unserer Welt nur träumen können. Umso fataler ist Hethors Beharren darauf, daß der göttliche Mechanismus fehlgeht – das sorgt für Aufruhr in theologischen und wissenschaftlichen Kreisen, die bei diesem Weltbild ohnehin relativ deckungsgleich sind.

Dieses weltanschauliche Gerüst liefert den Hintergrund für Mainspring (Die Räder der Welt), im Vordergrund steht aber eine klassische Abenteuerhandlung, wie sie phantastischer kaum sein könnte: Nachdem die Aufgabe der Weltrettung ohne Umschweife auf der ersten Seite vom Erzengel Gabriel höchstpersönlich überbracht wurde, natürlich einem (zumindest in Geschichten) vollkommen naheliegenden Helden, dem unbedarften, jungen und machtlosen Lehrling Hethor, verschlägt es diesen alsbald auf ein Luftschiff der Royal Navy und von dort über die Grenzen der bekannten Welt hinaus. Bald wechseln sich gigantische Schauplätze in rascher Folge ab, wobei vor allem die Dimensionen und die Exotik der riesigen äquatorumspannenden Wälle beeindrucken, aber auch die völlig fremdartige Welt auf der anderen Seite. Hinzu kommen apokalyptische Ereignisse, wenn der auslaufende Antriebsmechanismus der Welt ins Holpern gerät – in der Welt von Mainspring ist alles eine Nummer größer, steht der Mensch ganz wie in der Zeit der Entdeckung der Erdgeschichte auf unserer Welt staunend und klein vor dem Erhabenen. Nur daß Mainspring von einem mechanischen Universum mit mechanischen Problemen handelt, in dem sich ein Uhrmacher als Messias-Figur zur Verfügung stellen muß.

Der Plot fügt sich nahtlos in dieses Konzept ein und läuft mechanisch ab, die Handlung wird von unsichtbaren Zahnrädern am Laufen gehalten, und Hethor agiert meistens nicht, sondern wird durch die Ereignisse und Kulissen geschoben. Undurchsichtige und meistens im Hintergrund agierende Helfer und Feinde sind es, die seine Abenteuer in Bewegung setzen und in Gang halten. Er selbst ist ein argloser, aber treu gläubiger Held, der zur rechten Zeit an Ort und Stelle ist, um bestimmte Hebel in die ihnen vorbestimmte Bewegung zu setzen. Daß daraus eine regelrechte Erlösungs-Maschinerie wird, bei der Hethor eigentlich nichts bleibt, als mitzumachen, setzt der leisen, leisen Kritik nur die Krone auf, die einen immer wieder fragen läßt, wie groß die Unterschiede zwischen diesem mechanischen Weltbild und unserer lang gehegten Vorstellung vom Schöpfergott letzten Endes sind, und das, obwohl wir am Nachthimmel keine Schienen glitzern sehen.
Trotzdem können weder die phantastischen Settings noch die zunehmend phantastische Handlung darüber hinwegtäuschen, daß diese sichtlich gelenkte Plotführung der Erzählung nicht sonderlich dienlich ist: Sie kommt beim Leser als reine Willkür an, Hethors treuliches Beharren auf seiner Queste und die verworrenen Loyalitäten und Motivationen von Freund und Feind entziehen sich jeglichem Verständnis. Das Experiment, auch die Handlung wie ein Uhrwerk ablaufen zu lassen, ist allenfalls interessant, scheitert aber daran, eine dynamische Struktur zu schaffen.

Spaß kann man mit Mainspring trotzdem haben, wenn man die Komponente der irrwitzigen Abenteuer und des Staunens über immer neue Wunder mehr schätzt als die Spannung und Logik der Handlung. Liebenswerte Figuren und Völkchen schlagen sich auf Booten, Luftschiffen und riesigen Leitern und Treppen durch die Welt, und Hethor muß zumindest einige gesellschaftliche Dogmen über Bord werfen, um zu überleben. Die übertriebene Konzepttreue, der Jay Lake mechanisch folgt, läßt die Queste dabei allerdings zur unzureichenden Nebensache verkommen.

Stand: 05. Oktober 2012
Erscheinungsjahr: USA 2007
Verlag: Tor
ISBN: 978-0-7653-5636-9
Seitenzahl: 358
Titel der Übersetzung: Die Räder der Welt