Ich und die anderen

Ich und die anderen von Matt RuffAndrew Gage ist zwei Jahre alt und arbeitet als Hausmeister in einer Firma für Virtual Reality Projekte. Für einen Zweijährigen eine ungewöhnliche Beschäftigung und es wäre sicher aufgefallen, wenn sein Körper nicht bereits achtundzwanzig Jahre alt gewesen wäre.
Dennoch könnte man sagen, Andy führt ein normales und relativ ereignisloses Leben mit seiner Familie. Doch Andys Familie ist eine Besonderheit, denn sie alle wohnen in einem imaginären Haus in seinem Kopf.

-Mein Vater rief mich heraus.
Ich war sechsundzwanzig, als ich aus dem See kam, was manche Leute wundert, die sich fragen, wie ich ein Alter haben konnte, ohne eine Vergangenheit zu haben. Aber auch ich wundere mich: Die meisten Leute, die ich kenne, können sich an ihre Geburt nicht erinnern, und – das ist das erstaunlichste – es stört sie gar nicht, dass sie sich nicht erinnern.-
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Obwohl das Buch nicht mit Matt Ruffs Erstlingswerk Fool on the Hill zu vergleichen ist, schreibt Ruff hier wieder eine fantastische Geschichte auf realem Boden mit realen Problemen. Mit diesem Buch beweist er einmal mehr, dass seine Werke in keine Genre-Schublade passen. Sie sind ein wenig fantastisch, aber zu real um gänzlich Fantasy zu sein. Vielleicht zeigt das auch nur, wie viel Phantastik in unserer Welt verborgen liegt.

Dennoch: Dieses Buch ist schwere Kost. Nicht im sprachlichen Sinne und auch nicht was seine Verständlichkeit angeht. Nein, Ich und die anderen (Set This House In Order) bleibt hängen und windet sich für eine ganze Zeit fest um die Seele, melancholisch, traurig, ein wenig hoffnungsvoll, auf jeden Fall ernüchternd. Wer aber glaubt, ein Buch um das Thema multiple Persönlichkeit müsse zwangsläufig ausschließlich ernst und trocken aufgezogen sein, um dem Thema respektvoll zu begegnen und Humor habe darin keinen Platz, der täuscht sich. Neben den durchaus ernsten und bedrückenden Schicksalen der Hauptpersonen kommt der Humor keinesfalls zu kurz. Dieser Roman steckt nämlich voller Überraschungen und ist so wandlungsfähig, dass es einen so unvorbereitet trifft, wie ein Schlag mitten ins Gesicht.

Gerade die erste Hälfte des Buches animiert zum Schmunzeln und auch mal zum lauthals Auflachen. Bis zum Schluss ahnt man so nicht im Geringsten, wohin dieser Roman seinen Leser führt. Manchmal ist das Buch so spannend, fantastisch und komisch, dass man es kaum zur Seite legen kann und dann wieder so bedrückend, dass man es eine Weile zur Seite legen muss, um die geschilderten grausamen Ereignisse erst einmal verdauen zu können. Eben jene Ereignisse, von denen an dieser Stelle nichts verraten wird, haben zur Spaltung von Andy Gages Psyche geführt und damit wiederum eine ganz andere, für den Leser charmante Situation erschaffen, die auch für einen fantastischen Roman ungewöhnlich ist.
Ich und die anderen beginnt mit einer absurden Komik und wunderbar gezeichneten, starken, teilweise imaginären, Charakteren, nur um in einer vollkommen unerwarteten Ernsthaftigkeit zu gipfeln, die dem Buch zu seinem wahren Erinnerungswert verhilft, den Leser aber auch ausgesprochen unsanft in die Realität zurück holt. Es lässt die Krankheit dabei weniger als Krankheit erscheinen sondern vielmehr wie eine alternative Lebenseinstellung.

Dieses Buch spielt mit Gegensätzen, die auch Wochen später immer noch beschäftigen. Es fällt selten so schwer ein Buch angemessen zu beschreiben, da man Ich und die anderen viel mehr erfühlt als begreift und nur schwer in Worte fassen kann. Die nachhaltige Wirkung dieses Romans geht über das normale Begreifen des Verstandes hinaus und zwingt den Leser zu einer emotional erfühlten Bewertung des Gelesenen und der letztendlichen Frage, ob man im realen Leben einen an MP erkrankten Menschen mit derselben liebevollen Sympathie begrüßen würde, wie man es bei der Lektüre über Andy und seine Hausgemeinschaft beinahe selbstverständlich macht.

Empfehlenswert für alle, die nicht zu zartbesaitet sind und nicht nur seichte Unterhaltung oder Fantasy nach Schema F suchen.

Stand: 21. Mai 2012
Originaltitel: Set This House In Order. A Romance of Souls.
Erscheinungsjahr: USA 2003, D 2004
Verlag: dtv
Übersetzung: Giovanni & Ditte Bandini
ISBN: 3-423-20890-2
Seitenzahl: 714