Die Bruderschaft des Talisman

Die Bruderschaft des Talisman von Clifford D. SimakIm Herrensitz von Standish House wird eine uralte Schriftrolle gefunden – womöglich ein Beweis für die Existenz der historischen Person Jesus. Doch um die Echtheit der Schrift zu überprüfen – eines Dokuments, das den Menschen der verwüsteten Welt wieder bitter benötigte Hoffnung geben könnte –, muß es vom Norden Englands nach Oxenford gebracht werden. Dazwischen liegt das ‘Öde Land’, in dem sich die sogenannten Verheerer aufhalten: Schreckliche Monstren aller Art, die seit Jahrhunderten über die Menschheit herfallen. Der junge Adlige Duncan Standish wird auserwählt, die Schriftrolle durch das Feindesland zu transportieren, zusammen mit einigen treuen Begleitern.

-Das Herrenhaus war das erste unzerstörte Gebäude, das sie in den zwei Tagen ihrer Reise durch ein unglaublich gründlich verwüstetes Gebiet sahen.-
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Aus dem Jahr 1978, also dem Jahr nach der Mutter aller Tolkien-Klone (The Sword of Shannara von Terry Brooks), stammt diese Questengeschichte um einen jungen Adligen, der ein kostbares Artefakt mitten durch’s Feindesland transportieren muß, und sie ist einer der wenigen Ausflüge des SF-Autors Clifford D. Simak in die Fantasy. An vielen Kleinigkeiten erkennt man, daß das Genre damals noch nicht in die starren Schemata der Tolkien-Epigonen gepreßt war, auch wenn Die Bruderschaft des Talismans rein äußerlich dieser Blaupause durchaus zu folgen scheint und schon am Originaltitel The Fellowship of the Talisman erkennbar ganz offen in diesen Revieren wildert. Simaks gemächliche Erzählweise und die vielen mit großer Ernsthaftigkeit verfolgten klassischen Motive haben allerdings zur Folge, daß der Roman nicht ohne Einschränkungen empfohlen werden kann.

Am Helden Duncan Standish hat der Zahn der Zeit ganz besonders genagt: Er ist für heutige Verhältnisse lächerlich naiv und gutherzig, ein junges, unbeschriebenes Blatt, das nicht einmal groß über sich selbst hinauswachsen muß, weil er von Anfang an schon ein aufrechter und hervorragender Kämpfer ist. Dieser Part fällt eher seinem Gefährtentrupp zu, der bunt wie frisch importiert aus der Sesamstraße daherkommt: ein loyaler Diener, ein treuer Kampfhund (dessen Geschlecht in der deutschen Übersetzung mitunter changiert), ein zweifelnder Eremit, ein Geist, der nicht spuken kann, eine Hexe ohne magische Kräfte, ein Schlachtroß und ein kämpferischer Esel, eine Banshee und eine (nach ihrer Etablierung als Love interest des Helden zunehmend häusliche) Kampfmaid mit einem Reitgreif namens Hubert.

Die Queste, die nicht ganz konsequent umgesetzt (aber dadurch auch wenig störend für nicht gläubige Leser) auf christlicher Mythologie fußt, ist von Anfang an eine Verzweiflungsmission, denn das heilige Artefakt muß sicher durch einen wahren Todesstreifen gebracht werden, in dem die sogenannte Horde marodiert, eine Ansammlung abgrundtief böser Lebewesen und Bestien, die dafür gesorgt haben, daß die Menschheit bis zur Gegenwart auf dem Entwicklungsstatus des Mittelalters verharrt. Diese nicht-entwickelte Welt, in der durchaus manchmal moderne Einsprengsel und vor allem kurze Blicke auf eine mögliche andere –unsere– Gegenwart durchschimmern, hat eine gewisse postapokalyptische Anmutung, zumal beinahe die gesamte Handlung im verheerten Öden Land angesiedelt ist. Dieser Odem des Zerfalls unterscheidet sich stark vom  gewohnten Ambiente epischer Fantasy.
Die Hintergründe der Welt und der Queste nimmt man besser nicht zu sehr unter die Lupe, denn einer genaueren Betrachtung halten sie weder stand, noch werden die großen Fragen, die sich im Verlauf der Handlung stellen, zufriedenstellend geklärt. Simak greift statt dessen auf sein bevorzugtes Genre zurück, die SF, wodurch Die Bruderschaft des Talisman zu einem merkwürdigen Hybrid wird.

Welche Gründe gibt es also, diesen leicht unausgegorenen und nicht mehr ganz zeitgemäßen Roman trotzdem zu lesen? Vorweg ist zu sagen, daß man, um ihn überhaupt genießen zu können, willens sein muß, sich mit einer gewissen nostalgisch-verklärten Gutmütigkeit auf alte Fantasy einzulassen. Dann besticht Die Bruderschaft des Talisman durch viele Kleinigkeiten, in denen man Simaks große Stärken wiederfindet, die er auch in seiner SF zur Schau stellt: Vor allem anderen eine menschen- und tierfreundliche Warmherzigkeit, ein milder Blick auf menschliche Schwächen, durch die die skurrilen Charaktere, die sich oft in ausführlichen Zweifeln ergehen und auf die ein oder andere Weise unzulänglich fühlen, eine Menge Charme versprühen können – besonders der Eremit Andrew und die alte Hexe Meg sind ein herziges Pärchen. Und sie sind nicht die einzigen beiden Figuren, die Duncans altmodische Ritterfahrt durch ihre Zögerlichkeit aufhalten. Damit gehen auch amüsante Dialoge einher, und insgesamt sind es eher die ruhigen als die actionreichen Passagen des Romans, die gut funktionieren. Immer wieder gelingen Szenen mit viel Atmosphäre in der menschenleeren Landschaft, und kuriose Ideen blitzen auf, manche gelungen und manche weniger (so etwa ein kleiner Ausflug in die Artussage, beim Handlungsort auf den britischen Inseln wohl unerläßlich). Und über allem liegt ein feiner, leiser Humor. Wenn man Die Bruderschaft des Talisman nicht wegen der Spannung liest, findet man eine schlicht und ergreifend nette Abenteuergeschichte, nicht mehr und nicht weniger.

Auf Deutsch wurde der Roman in zwei Versionen veröffentlicht, 1979 unvollständig als Die Brüderschaft vom Talisman (Cover mit einem Drachenkämpfer), 1987 in einer überarbeiteten Ausgabe als Die Bruderschaft des Talisman mit dem gezeigten Rattencover.

Stand: 09. September 2012
Originaltitel: The Fellowship of the Talisman
Erscheinungsjahr: USA 1978, D 1979 (überarbeitet 1987)
Verlag: Goldmann
Übersetzung: Jürgen Saupe
ISBN: 3-442-23330-5
Seitenzahl: 286