Der Weg des Magiers

Cover von Der Weg des Magiers von Jean-Louis Fetjaine6. Jahrhundert nach Christus: Der junge Merlin reitet zusammen mit Guendoleu, dem König von Kumbrien, und dessen Truppe nach Schottland. König Ryderch hat alle britannischen Fürsten zusammengerufen, damit sie sich unter seiner Führung vereinigen. Doch Aldan, Königin von Dyfed, die Mutter Merlins und Witwe des ranghöchsten Königs der Britannier, macht dem ehrgeizigen Ryderch einen Strich durch die Rechnung. Sie überreicht den goldenen Torques, einen Halsreif als Zeichen der obersten Königswürde, Guendoleu von Kumbrien. Kurze Zeit später geraten Guendoleu und seine Männer in einen Hinterhalt. Alle außer Merlin werden niedergemetzelt. Merlin nimmt den Torques an sich, um ihn nach Dyfed zurückzubringen. Wird er sein Ziel je erreichen?

-Der Winter hatte bereits Einzug gehalten. An jenem Morgen war die Luft anders als sonst, kälter und klarer.-
1 Die Prophezeiung

Der Weg des Magiers (Le Pas de Merlin) ist der klassische Auftakt einer Trilogie. Jean-Louis Fetjaine stellt dem Leser ausführlich die handelnden Charaktere vor und bringt die gegnerischen Parteien in Stellung. Die Hauptperson ist Merlin – hier kein alter, weiser Magier mit langem Bart, sondern ein Jüngling, klein gewachsen und für einen jungen Mann von auffallend zierlicher, schmächtiger Gestalt. Wohl deshalb nennt Fetjaine ihn häufig, oft mehrfach auf einer Seite, das Kind. Diese penetrant wiederholte Bezeichnung für den jungen Barden ist das einzige an diesem Roman, was erst irritierend, im weiteren Verlauf der Geschichte nur noch störend wirkt. Da der Autor von Merlin ständig als dem Kind spricht, glaubt man zunächst, König Guendoleu hätte einen Elf- oder Zwölfjährigen in seinem Gefolge, vielleicht als Knappen oder Pagen. Nachdem man einiges über Merlins frühe Kindheit und seinen Werdegang erfahren hat, setzt man sein Alter auf 14 oder 15 herauf, um endlich zu dem Schluß zu kommen, daß Merlin mindestens 16 Jahre alt sein muß, da sich König Ryderchs siebzehnjährige Schwester Guendoloena wohl kaum von einem Kind entjungfern lassen würde, das für sein Alter auch noch klein und schmächtig ist.

Nicht nur in Liebesdingen benimmt sich Merlin alles andere als kindlich. Den Hinterhalt überlebt er nur, weil er beherzt und skrupellos kämpft. In solchen Situationen wirkt die Bezeichnung das Kind auch noch unfreiwillig komisch: Merlins Antwort war, aus Leibeskräften auf die Lanze des Mannes einzudreschen … Das Kind machte erneut einen Ausfall, doch diesmal war der Mann aus den Bergen darauf gefaßt … Er hatte sich umgedreht, und das Kind nutzte die Chance, um sich nach vorne zu werfen und zuzustoßen, doch der Krieger wich mühelos aus, und wieder traf der Schwertstumpf nur ins Leere. Mit einem Rippenstoß brachte er das Kind aus dem Gleichgewicht … Merlin stürzte sich auf ihn, und das zerbrochene Schwert bohrte sich tief in die Leiste des Reiters …, worauf Merlin zum Angriff überging und, sein Schwert wie ein Messer in der Hand, auf ihn einstach, bis er endlich zu schreien aufhörte. Zwar ist auch im Nibelungenlied der jüngste der königlichen Brüder, Giselher, auch dann noch das Kind, als er aufgrund der Geschichte schon weit in den Vierzigern sein müßte, aber Giselher hat sich inmitten seiner intriganten und rachsüchtigen Verwandtschaft noch Reste eines kindlichen Gemüts bewahrt. Merlin wirkt jedoch aufgrund seines Handelns weitaus älter als sein Aussehen und seine Jugend vermuten lassen.

Die große Stärke des Romans ist, daß Fetjaine, der mittelalterliche Geschichte studiert hat, sich um größtmögliche historische Authentizität bemüht. Im Nachwort beschreibt der Autor den historischen Hintergrund seiner Geschichte und wie sich daraus die Artuslegende entwickelt hat. Außerdem gibt es eine ausführliche zeitliche Übersicht. Über weite Strecken ist Der Weg des Magiers eher ein historischer Roman, Fantasyelemente kommen kaum vor, abgesehen davon, daß sich die Hinweise häufen, daß Merlins Herkunft außergewöhnlich ist. Auch die Konkurrenz zwischen der neuen christlichen Religion, repräsentiert durch die Mönche und den Klerus, der munter in der Politik mitmischt, und dem alten Glauben der Britannier, vertreten durch Merlin und andere Barden, spielt eine Rolle. Erst gegen Ende des Romans bricht das Übernatürliche deutlich in die Handlung ein. Merlin wird im wörtlichen Sinne über Nacht erwachsen. Die Beschreibung dieser besonderen Nacht ist so spannend, mitreißend und emotional, daß man Fetjaine auch verzeiht, daß er Merlin wahrscheinlich zum tausendsten Mal das Kind nennt. Dies ist die gelungenste Szene des Romans, doch sie ist keine Ausnahmeerscheinung. Fetjaine versteht es, eine packende Atmosphäre zu erschaffen, seinen Protagonisten Leben einzuhauchen und eine lang vergangene Zeit wieder auferstehen zu lassen.

Stand: 27. Oktober 2012
Originaltitel: Le Pas de Merlin
Erscheinungsjahr: F 2002, D 2004
Verlag: dtv
Übersetzung: Svenja Geithner
ISBN: 978-3423244091
Seitenzahl: 337