Der Turm der Göttin

Cover des Buches "Der Turm der Göttin" von Jane GaskellCija ist die Tochter der Königin, deren Geschlecht sich von den Göttern ableitet. Um eine Prophezeiung, die Fremdherrschaft für das Land verheißt, zu verhindern, wurde sie siebzehn Jahre lang in einem Turm fernab der Gesellschaft gehalten, doch nun verlangt der mächtige Feldherr Zerd, der mit seinen Truppen das Land besetzt hält, einige Geiseln, so auch Cija. Sie erhält die Aufgabe ihn zu verführen und dann in der Nacht zu ermorden. Zerd aber scheint zunächst an ihr nicht interessiert zu sein, sein Ziel ist es, das ferne und unerreichbare Atlantis zu erobern. Dazu jedoch benötigt er die Flotte des Südreiches. So macht sich Cija, die Tochter der Götter, auf eine lange Reise in den tiefen Süden, auf der sie in der Gesellschaft immer tiefer sinkt…

-Von keinem anderen Fenster aus kann ich die Dinge so gut sehen.-
Der Turm

Das Geschehen findet wohl in einem prähistorischen Mittel- und Südamerika statt, es könnte aber genauso auf einer Sekundärwelt stattfinden, so wenig hat diese Welt mit der unseren gemein. In Cijas Heimat herrscht eine matriarchalische Dynastie, die allerdings von den Priestern stark unter Druck gesetzt wird. Die Nordländer, deren Feldherr Zerd ist, haben einen sehr militaristischen König als Herrscher, die Südländer einen militaristischen Gottkaiser.

Bei der Beschreibung der Techniken der Kulturen bleibt Gaskell einigermaßen vage: Es gibt Bauern, die Pflüge und künstlichen Dünger benutzen, Brennstoffhändler, die mit Torf und Holz handeln, prachtvolle Steinbauten und Springbrunnen. Großer Reichtum Weniger ist mit allgemeiner Armut gepaart. Die Soldaten nutzen Speere und Schwerter, die Nordländer reiten große straußenähnliche Reitvögel, die Südländer Pferde. Die sehr phantasievoll und prachtvoll herausgeputzten Frauen werden z.T. detailliert beschrieben. Gaskell hat eine sehr originelle Welt geschaffen, die bis heute ungewöhnlich geblieben ist.
Die magischen Elemente sind jedoch auf einem sehr niedrigen Niveau angesiedelt, z.T. muss der Leser schon genau hinsehen um eines als solches zu erkennen. Einige sind jedoch für den Verlauf der Geschichte nicht unerheblich.

Die phantastischen Elemente, die sich am Feldherrn Zerd manifestieren, gehören zu den weniger bedeutsamen, aber dafür offensichtlicheren, denn seine Mutter entstammt einer dunkel-schuppigen nicht-menschlichen Rasse, nur sein Vater war ein Mensch. Zerd selbst hat ebenfalls eine Haut wie von einer Schlange – daher rührt auch sein Spitzname: Der Drache.
Zerd ist ein begnadeter Feldherr und gewiefter Politiker, auch physisch ist er herausragend, dennoch ist er kein Übermensch – auch er kann nur das Machbare schaffen. Er kann grausam und hart sein, aber auch mitfühlend und freundlich – generell scheinen andere Menschen aber nur Instrumente für ihn zu sein.

Cija ist die Hauptperson, die ihr Tagebuch schreibt. Da sie Gespräche z.T. wörtlich wiedergibt, gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen, wenn Cija jemand ihr Verhalten vorwirft. Sie ist feinfühlig und naiv, auch wenn sie  sehr schnell und sehr viel hasst, so wird sie doch eher von ihrem Mitgefühl bestimmt. Sie ist nicht dumm, denn sie hat in ihrer Jugend ihre Bibliothek ausgiebig genutzt. Daher kann sie z.B. erkennen, dass die meisten Männer nur den Körper der Frauen gebrauchen und deren Aussehen relativ egal ist – dennoch will sie Zerd, den sie doch hasst, gefallen und schön für ihn aussehen.
Mal reflektiert sie bewusst über derartige Zwiespältigkeiten, mal nicht. Je nachdem, in welcher Lage sie sich gerade befindet, übernimmt sie passende Ansichten, um sich in der Situationen zurecht zufinden – sie ist auf der Suche nach einer Gemeinschaft, der sie sich anschließen kann, dafür gibt sie viele ihrer alten Positionen auf.

Daneben gibt es noch unzählige weitere Figuren, einige spielen größere Rollen, wie Smahil, der auch eine Geisel ist, die ungewöhnliche Priesterin Ooldra, die kleine Narra, die Cija verehrt oder die Schönste, welche die Konkubine Zerds ist, andere treten nur kurz auf. Alle Figuren wirken glaubwürdig, vielfach streiten kleine Eitelkeiten, das Gewissen und Rationalität der Figuren miteinander. Auch ist es der Autorin gelungen eine ungewöhnliche Bandbreite von Charakteren darzustellen. Die Figuren sind sicherlich eines der Glanzstücke der Geschichte.

Cija beschreibt in ihrem Tagebuch ihren Alltag, der allerdings von Leiden massiv geprägt ist. Auch wenn Cijas Geschichte zunächst einigermaßen geradlinig aussieht, wird sie im Laufe der Zeit doch immer verworrener und zielloser.
Es werden viele unangenehme Themen angeschnitten: Es geht um Gewaltanwendung als Strafmaßnahme und aus Langeweile, es geht um Vergewaltigung und die Stellung der Frau in der Gesellschaft, insbesondere wenn ein feindliches Heer in ein Territorium eindringt, Armut, Sklaverei, Fremdenfeindlichkeit und Genderbending. Vieles davon erfährt Cija am eigenen Leib, so muss sie sich eine Zeit lang als Junge verkleiden und lernt einen Jungen kennen, der lieber eine Frau wäre. In seinem Heimatdorf würden ihn die Mitbewohner töten, würden sie von seiner “Perversion” erfahren.

Auch wenn es sich vielfach ausgedehnte Beschreibungen gibt, besonders am Anfang, ist die Geschichte doch spannend und der Leser will erfahren, wie es mit Cija weitergeht. Als Manko könnte man aber die vielen Zufälle, die sich ereignen, werten. Der Stil ahmt den eines Tagebuchs tadellos nach, selbst die Wandlungen, denen Cija unterliegt, werden leicht angedeutet.
Jane Gaskell hat The Serpent als einen Roman verfasst, erst später wurde dieser zweigeteilt – in den “ersten” Band The Serpend/Der Turm der Göttin und den “zweiten” Band The Dragon/Der Drache, das Ende ist daher nicht besonders befriedigend – man muss dafür schon den “zweiten” Teil lesen.

Stand: 27. Oktober 2012
Originaltitel: The Serpent
Erscheinungsjahr: 1963, D 1976
Verlag: Bertelsmann (Heyne)
Übersetzung: Horst Pukallus
ISBN: 3-453-00967-3
Seitenzahl: 329