Der magische Wald

Der magische Wald von Paul KearneyMichael wächst bei seinen Großeltern auf einer abgelegenen irischen Farm auf. Im nahegelegenen Wald entdeckt er allerdings auf seinen zahlreichen Streifzügen Unheimliches: Speerbewaffnete Fuchsleute in der Abenddämmerung auf der anderen Seite des Flusses, unsichtbare Wesen, die ihn aus den Bäumen beobachten. Als er sich über den Fluss wagt und von der anderen Seite eine Trophäe mitbringt, dringt die andere Welt auch in sein friedliches Hofleben ein. Fasziniert und entsetzt zugleich zieht es Michael immer mehr in die Welt des Wildwalds, die nur ihm sichtbar und zugänglich ist.

-Für einen Erwachsenen, dem die Müdigkeit der Welt durch die Adern fließt, ist das Land überschaubar und ohne Geheimnisse – wie ein Schiffsmodell in einer Flasche.-
Kapitel eins

Ein Heranwachsender, der Übergänge in eine andere Welt findet und nutzt – das ist beinahe schon ein eigenes Genre innerhalb des Fantasy-(Jugend-)Buchs, an dem sich so viele Autoren versucht haben, dass das Konzept unendlich ausgewalzt wirkt. Paul Kearney hat sich der Thematik des Betretens einer Anderswelt in seinen ersten drei Romanen gewidmet, ehe er sich der heroischen Fantasy zuwandte. In Der magische Wald (A Different Kingdom) macht er daraus eine Hommage an die Vergangenheit seiner Heimat Nordirland und an das Erwachsenwerden, eine akribische Beobachtung der Entwicklung, die sowohl Land als auch Held vollziehen und die mit Wehmut begleitet wird.
Dabei gelingt es ihm, den Zauber der Jugend schon in den schlichten Szenen auf dem Bauernhof von Michaels Großeltern famos einzufangen: die Kinderwelt, in der jeder Wechsel der Jahreszeiten ein Abenteuer ist, die Freiheit, in die das Fremde sowohl in Form von neuen (schulischen) Pflichten eindringt, aber auch in Form von Sexualität – auch dieser Aspekt wird ohne Tabus angesprochen und als elementarer Bestandteil des Aufwachsens nimmt er einen Stellenwert ein, der sämtliche Jugendbuch-Assoziationen, die die Thematik vielleicht wachgerufen hat, schnell unter den Tisch fallen lässt. Gleichzeitig nimmt der Wald – der fremde und wilde Wald, der nicht mehr Bestandteil von Michaels Welt ist und zugleich seine Angst und seine Neugier weckt – immer mehr Raum in Michaels Leben ein.

In diesem Setting konnte Kearney seine Zuneigung zu seiner nordirischen Heimat, zum Gaelischen, zu den Überlieferungen einbringen, wobei die psychologisch ausgefeilte Darstellung seines heranwachsenden Helden nie zu kurz kommt. Das beschauliche Leben im ländlichen Irland ist historisch und kulturell stimmig portraitiert, die akribische Darstellung der Landwirtschaft kurz vor ihrer  Industrialisierung hätte John Seymour wohl Tränen in die Augen getrieben. Diese innerhalb von einer Generation verlorene Lebenswelt wirkt authentisch, vielleicht ein wenig idealtypisch dargestellt, dafür wird einem beim Lesen aber auch ganz warm ums Herz. Dahinter, weniger gemütlich, verbirgt sich immer die archaische, nicht domestizierte Waldwelt, ein phantastisches Irland voller Kelten, magischer Waldwesen und frommer Priester. Der Wald besticht weniger durch seine Details (z.B. gibt es bei den Wyrims, den Waldwesen, nur recht wenige genau zu unterscheidende Arten), sondern durch seine Erhabenheit, und genauso wie die Szenen in Michaels Heimat ein verlorenes Landleben beschwören, rufen die Waldszenen ‘Erinnerungen’ an ein von riesigen Wäldern bedecktes Europa wach, dem der Mensch nur kleine, fragile Bastionen abringen konnte.

Michaels Abenteuer führen immer tiefer in den Wald, immer weiter weg von seiner realen Welt. Die verschachtelte Erzählung auf drei Zeitebenen, die man erst nach und nach zu einem kompletten Bild zusammensetzen kann, tut das ihre dazu, um zu klären, dass die Heldenreise noch weitere Dimensionen aufweist. Die Geschichte des erwachsenen Michael Fay gerät dabei etwas knapp, was aber im Kontext das Gefühl unterstreicht, dass er nach dem Kontakt mit der Anderswelt nicht mehr in und mit den Anforderungen der echten Welt zurechtkommt – die Geschichte vom Menschen, der durch einen kurzen Aufenthalt unter dem Elfenhügel tatsächlich hundert Jahre verpasst hat, wird hier auf sehr clevere Weise variiert. Dazu passt auch das stimmige, aber relativ einfach abgehandelte Ende, das den Kreis schließen kann.

Der magische Wald öffnet für den Leser Tore in mehrere fremde Welten und kann mit dem perfekt eingefangenen Charme der Jugend verzaubern, lässt die Veränderungen im jungen Selbst mit einer sich verändernden Welt korrespondieren und zeigt einen nicht rundum tröstlichen, sondern durchaus auch grusligen und fremdartigen archaischen Zufluchtsort eines Menschen, der an den nötigen Anpassungen zu scheitern droht und sich nicht von der Zivilisation zähmen lässt.

Stand: 05. Oktober 2012
Originaltitel: A Different Kingdom
Erscheinungsjahr: UK 1993, D 1995
Verlag: Bastei Lübbe
Übersetzung: Michael Ritz
ISBN: 3-404-20259-7
Seitenzahl: 379