Das silberne Einhorn

Das silberne Einhorn von Max KruseEin König verscherzt es sich mit einer mächtigen Fee, als er es versäumt, sie zum Geburtstagsfest seiner kleinen Tochter einzuladen, und steht fortan unter einem Fluch, der nur gebrochen werden kann, wenn der Fee eines der seltenen – vielleicht gar ausgestorbenen – Einhörner übergeben wird.  Geschieht dies nicht, bleibt der König zu ewiger Traurigkeit verdammt, was sich auch auf sein ganzes Reich äußerst nachteilig auswirkt. Herangewachsen begegnet die Prinzessin wider Erwarten tatsächlich einem silbernen Einhorn und macht sich mit ihm und ihrem Spielkameraden, einem Müllerjungen, zur fernen Insel der Fee auf, um den Bann zu brechen …

Diese Geschichte fängt an wie ein Märchen, das wir alle kennen. Und wie alle Märchen erzählt sie uns etwas über uns, was wir vielleicht noch nicht wissen.
(Die Fee)

Max Kruse dürfte den meisten Lesern wohl vor allem als Kinderbuchautor vertraut sein; seine für Jugendliche und Erwachsene bestimmten Werke (z.B. der historische Roman Hazard der Spielmann) haben nie einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad wie die Klassiker Urmel aus dem Eis oder Der Löwe ist los erreicht. Mit Das silberne Einhorn. Eine Geschichte vom Wünschen richtet Kruse sich abermals an ein erwachsenes Publikum, aber wer mit einem regelrechten Fantasyroman rechnet, wird enttäuscht sein. Die kleine, feine Erzählung ist halb Märchen, halb Parabel und erörtert in scheinbar naiver Form manche Frage des menschlichen Daseins und des Umgangs miteinander.

Als vergleichbares Werk kommt einem noch am ehesten Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz in den Sinn, doch dessen melancholische Grundstimmung fehlt bei Kruse. Er zeichnet eher eine hoffnungsvolle Utopie, die in ihrer Tendenz, selbst lebensbestimmende Konflikte als überwindbar darzustellen, bisweilen fast ein wenig zu optimistisch anmutet. Doch in gewisser Weise ist dieser idealistische Glaube an Lernfähigkeit und Gutwilligkeit des Menschen durchaus subversiv, fühlt man sich doch gerade von dieser Überzeugung zutiefst in eingefahrenen und nicht selten etwas zynischen Denkmustern ertappt. Ist man dann erst einmal zu dem (gerade für den modernen Fantasyleser gewiss nicht immer einfachen) Eingeständnis gelangt, dass eine abgeklärt-pessimistische Weltsicht weder die einzig mögliche noch allein wünschenswerte ist, fällt es leichter, sich auf den Zauber von Kruses Geschichte einzulassen, die nicht zuletzt auch von ihrer poetischen und zugleich einfachen Sprache lebt. Ganz schlichte, aber treffende Wendungen wie “Sie wanderten durch den Sommer”, “Grau wurden die Bäume, grau wurden die Wiesen” oder “Sie waren umgeben von Bläue und Licht” beschwören eine märchenhafte Kulisse für die vordergründig simple Handlung herauf, die ihrerseits den Rahmen für zahllose kleine Einsichten und Erkenntnisse bildet.

Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder die Frage nach Entscheidungsgewalt, Zwang und Freiheit, teilweise auch in Situationen, die unterschwellig schon in anderen Werken Kruses anklingen und womöglich nicht ohne autobiographische Bezüge sind (so spielt z.B., wie in Hazard, ein Sohn, der zunächst die Mitarbeit im Betrieb der Mutter über das Ausleben eigener Träume stellt und sich dann doch unerwartet mit der Welt und der Frage nach seinen eigenen Wünschen konfrontiert sieht, eine zentrale Rolle).

Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, wie Kruse bekannte literarische Motive adaptiert und seiner eigenen Philosophie gemäß umdeutet. Zu denken ist dabei nicht nur an die leicht dornröschenhafte Ausgangssituation, sondern beispielsweise auch an den Topos der zum Dank für eine Lebensrettung gewährten Wunscherfüllung oder die Fähigkeit des Gestaltwandelns. Auch das titelgebende Einhorn selbst stellt eine interessante Uminterpretation bestimmter Züge des klassischen Fabeltiers dar und ist gleichwohl für ein derart mit Symbolik aufgeladenes Geschöpf erstaunlich niedlich. Dieser Hauch von Individualität, der ein Erstarren der Figuren in der Allegorie verhindert, trägt viel zum Charme der Erzählung bei.

Ihren Reiz für den genreerfahrenen Leser gewinnt sie aber vor allem auch daraus, dass sie einem vor Augen führt, dass sich aus den klassischen Zutaten wie Magie, Fabelwesen und verfluchten Königen auch etwas völlig anderes zusammensetzen lässt als typische Fantasy. Wer auch nur ansatzweise auf diese hofft, sollte sich wohl andere Lektüre suchen, aber wer seinen Spaß an liebenswert verpackten Lebensweisheiten hat und dabei vielleicht auch nicht böse ist, sich einmal in das wohlige Kinderbuchlesegefühl zurückflüchten zu dürfen, dass schon nichts ganz Entsetzliches in der Geschichte geschehen wird, kann die Begegnung mit dem Silbernen Einhorn genießen.

Stand: 04. Februar 2014
Erscheinungsjahr: 2011
Verlag: Thiele (Originalausgabe), Piper (hier besprochene Ausgabe)
ISBN: 978-3-492-30105-3
Seitenzahl: 144