Corpus Delicti

Corpus Delicti von Juli ZehMia Holl leidet, seit ihr Bruder, der aufgrund eines erschlagenden DNA-Beweises des Mordes überführt wurde, im Gefängnis den Freitod gewählt hat. Sie leidet so sehr, dass sie ihr Sportprogamm und die Überprüfung und Abgabe ihrer Körperdaten vernachlässigt. Dadurch gerät sie in die Mühlen der Bürokratie des Staates, der der “Methode” folgt, einer Regierungsform, in der Gesundheit der höchste und einzige Wert ist. Ihr Fall schlägt hohe Wellen, sie verstrickt sich immer tiefer, und die Kritik ihres Bruders an der “Methode” wirkt in ihr nach.

-Rings um zusammengewachsene Städte bedeckt Wald die Hügelketten.-
Mitten am Tag, in der Mitte des Jahrhunderts

Für junge Leser ist die Dystopie seit einer Weile im Trend, für Erwachsene scheinen die Höhepunkte des Subgenres dagegen schon längst von gestern zu sein. Aber rufen die Tatsache, dass die Klassiker langsam von der Gegenwart eingeholt werden, und das Einzughalten neuer Entwicklungen nicht nach unverbrauchten dystopischen Szenarien?
Schon kurz vor dem Boom der All-Age-Dystopie ist Juli Zeh mit ihrer Vision eines Überwachungs- und Gesundheitsterror-Staates in SF-Gefilde vorgedrungen und hat damit Themen aufgegriffen, die Lust machen, sich auf das “was wäre wenn?”-Spiel einzulassen.
Man könnte nun die x-te Überlegung über Nicht-Genre-Autoren anstellen, die ins Genre drängen (wobei nicht ganz klar ist, ob Zeh das wirklich beabsichtigt hat), doch der Fokus von Corpus Delicti liegt ohnehin nicht auf den SF-Elementen und dem Zukunftsentwurf, sondern auf rechtsphilosophischen Betrachtungen und der Beobachtung menschlicher Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen, die nur grob angerissen und mit zu wenigen Mosaiksteinchen konkretisiert werden, als dass man sich auch nur annähernd ein Gesamtbild zusammensetzen könnte. Sogar die Sprache des neuen Regimes, die seit jeher ein Medium für die dahinterstehende Ideologie darstellt, ist lediglich anhand einiger prägnanter Einzelheiten wie dem omnipräsenten Gruß “Santé!” herausgearbeitet.

Corpus Delicti ist ein durchaus spannend und geschickt mit Rückblenden und anderen Kniffen verschachtelter Roman, der nicht davor zurückscheut, nach allen Regeln der unterhaltungsliterarischen Kunst Nebenfiguren in Stellung zu bringen, die dann wie ein Uhrwerk ihre Funktion im Spannungsaufbau erfüllen, besonders in den (jawohl!) Action-Szenen. Letzten Endes erwächst die Spannung aber vor allem daraus, dass die meist passive, von außen bewegte Heldin unvorhersehbar handelt (oder eher das Handeln unterlässt) und so gut wie alles geschehen kann, ohne Konsequenz des Vorausgehenden sein zu müssen.
Kafkaeske Auslieferung an die Staatsmacht nimmt in der Tat auch den Großteil der Handlung des mit “Ein Prozess” untertitelten Romans ein, dem ein gleichnamiges Theaterstück vorausgegangen ist. Das Gewicht liegt dementsprechend auf den mit vielen Hintergründen ausgearbeiteten Gerichtsszenen, von denen Zeh auch sonst stilistisch nicht unbeeinflusst scheint. Die Abschnitte dazwischen haben dagegen etwas Skizzenhaftes, was durch die zunehmend extrem handelnden Figuren der Nachvollziehbarkeit des Geschehens nicht gerade zum Vorteil gereicht – besonders die Figurenbeziehungen bleiben kryptisch und die Charaktere selbst seltsam unlebendig, ihre biographischen Hintergründe, etwa Mia Holls Berufswissen als Biologin, werden zwar bei Bedarf ausgepackt und eingesetzt, färben aber sonst nicht auf das Innenleben ab.

Interessant bleibt vor allem die Ausgangsfrage nach der Natur des “Methode” genannten staatlichen Gesundheitsterrors und vor allem nach dem Menschen darin. Da aber die Methode der “Methode” sich vor allem schöner neuer Überwachungstechnik bedient, ist die Kritik am Überwachungsstaat und seinen in ihrer Komfortzone ungestörten Mitläufern in Corpus Delicti ausgeprägter als die am Gesundheitswahn, und damit hat das Szenario seine Unverbrauchtheit schnell verspielt. Für die rechtsphilosophische Fragestellung muss dann auch ein möglicher (Achtung, Spoiler im Link), aber konstruierter Fall herangezogen werden, die echten Probleme eines solchen Weltentwurfs bleiben Andeutungen oder ganz unausgesprochen – was der Handlung etwas von einem aufgesetzten Diskurs verleiht.
Zu einem guten Teil ist der künstliche Charakter Programm: Eine Welt ohne Krankheit, wie sie in Corpus Delicti ausgemalt wird, hat das Zeug zur (und ist in anderen phantastischen Szenarien eine) Utopie, hier wird sie zur blutleeren, sterilen und naturentfremdeten Welt. Ich bin krank, also bin ich?
Corpus Delicti liefert dazu eine interessante, mitunter spannende Betrachtung, der man jedoch das Konstrukt zu sehr ansieht, als dass sie auf überzeugende Weise Leben simulieren könnte.

Stand: 10. September 2012
Erscheinungsjahr: D 2009
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-74066-6
Seitenzahl: 263