Zum 80. Geburtstag von Nikolai Tolstoy

Bibliotheka Phantastika gratuliert Nikolai Tolstoy, der heute 80 Jahre alt wird. Oder, genauer gesagt, dem am 23. Juni 1935 in Maidstone in der südostenglischen Grafschaft Kent geborenen englisch-russischen Historiker und Autor Graf Nikolai Dmitrievich Tolstoy-Miloslavsky*, der sich als Nikolai Tolstoy zunächst mit Sachbüchern über den Zweiten Weltkrieg und dessen Nachwehen – beispielsweise Victims of Yalta (1977, rev. 1979; dt. Die Verratenen von Jalta. Englands Schuld vor der Geschichte (1978)) – oder auch mit einem biographischen Portrait seiner Familie – The Tolstoys: 24 Generations of Russian History, 1353-1983 (1983; dt. Das Haus Tolstoi. 24 Generationen russischer Geschichte (1353-1983) (1985)) – einen Namen machte. Danach wandte er sich einem Themenkreis zu, mit dem er in seiner Kindheit zum ersten Mal in Berührung gekommen war, als er kindgerechte Versionen der Artus-Geschichten von Sir Thomas Malory und des Mabinogion verschlungen hatte, und zu dem er sich während des Studiums am Trinity College in Dublin und danach eine umfangreiche Bibliothek aufgebaut hatte. Ursprünglich war er vor allem an Artus bzw. dem Artus-Mythos interessiert gewesen, doch im Laufe der Jahre begann er, die Merlin-Legende durch die Linse keltischer Mythologie zu betrachten, und kam zu dem Schluss, dass Merlin tatsächlich eine historische Figur war. Wie er zu diesem Schluss gekommen ist und welcher Quellen er sich bedient hat, erklärt er in dem Sachbuch The Quest for Merlin (1985; dt. Auf der Suche nach Merlin (1987)).
Als Tolstoy feststellte, dass er – zumindest auf der Sachbuchebene – alles zu Merlin gesagt hatte, was er zu ihm sagen wollte, aber innerlich noch nicht ganz mit dem Thema fertig war, reifte in ihm der Entschluss, das Ganze einmal literarisch anzugehen – und das Ergebnis (und der Grund, warum Nikolai Tolstoy hier heute überhaupt auftaucht) ist der Roman The Coming of the King (1988), der Auftaktband einer geplanten, aber nie vollendeten Merlin-Trilogie. In Anbetracht von Tolstoys Hintergrund, seinem Interesse an den Dark Ages und den alten (nicht nur) The Coming of the King von Nikolai Tolstoykeltischen Mythologien ist es nicht weiter verwunderlich, dass The Coming of the King – ähnlich wie die Saga of Parsival des vor zwei Monaten hier erwähnten Richard Monaco – auf ältere Quellen rekurriert, in denen noch nichts von der Ritterromatik zu finden ist, die seit Malorys Zeiten meist unverzichtbarer Bestandteil des Artus-Sagenkreises geworden ist. Doch im Gegensatz zu Monaco, dessen Ansatz man vielleicht am ehesten als postmodern bezeichnen könnte, hat Tolstoy sich für eine sprachlich und stilistisch archaisierende Herangehensweise entschieden. Mit dem Effekt, dass The Coming of the King sich nicht wie ein Fantasyroman liest, sondern wie ein irgendwann im sechsten nachchristlichen Jahrhundert entstandenes und somit ohne Rücksicht auf heutige Erzählkonventionen und Lesegewohnheiten verfasstes Epos.
Tolstoys Merlin – oder Myrddin, wie er ihn nennt – ist kein Zeitgenosse Artus’, sondern lebt mehrere Generationen später, zu einem Zeitpunkt, an dem sich keltische Könige und sächsische bzw. nordische Eindringlinge um die Überreste von Artus’ einstigem Reich streiten. Wer da letztlich mit wem verbündet ist und warum gegen wen kämpft, ist vermutlich nur für Leser und Leserinnen mit einem entsprechend breiten und tiefen historischen und mythologischen Hintergrund erkennbar – vor allem, da viele der vertrauten Begrifflichkeiten des Artus-Mythos nicht oder allenfalls in verfremdeter Form auftauchen. Hinzu kommt, dass die – fast ausschließlich männlichen (in Tolstoys Kriegergesellschaften haben Frauen wenig bis nichts zu sagen) – Figuren ziemlich eindimensional charakterisiert sind, so dass es von Königen wimmelt, die mal grimmig, mal unbesonnen und mal überaus großzügig sind, und deren Krieger vor allem tapfer und deren Barden vor allem sprachgewandt sind. Einzig der römische Tribun Rufinus, der merkwürdig fehl am Platz wirkt, sticht ein wenig heraus. Auch Myrddin selbst bleibt eine schwer fassbare Figur, über den man zwar Vieles erfährt – etwa, dass er vierzig Jahre als Fisch gelebt hat und mit den Heringsschwärmen gezogen ist –, ohne dass sich ein rundes Gesamtbild ergibt. Doch trotz all dieser Einwände bietet The Coming of the King ein zwar anstrengendes, aber streckenweise faszinierendes Leseerlebnis, das viel mehr mit alten Sagen und Mythen gemein hat, als mit einem typischen Artus- oder Fantasyroman, und kann – wenn man sich auf die Erzählweise einlässt – einen ganz eigenen Lesesog erzeugen.
Von daher ist es durchaus bedauerlich, dass Nikolai Tolstoy die beiden geplanten Folgebände seiner Trilogie nie geschrieben hat – nicht, weil er die Lust an dem Thema verloren hätte, sondern weil er kurz nach Erscheinen von The Coming of the King in einen langen Rechtsstreit verwickelt wurde, der mit den Thesen zu tun hat, die er u.a. in dem bereits genannten Sachbuch The Victims of Jalta aufgestellt hat**.
Erst einige Zeit nach dem Tod seines langjährigen Kontrahenten hat er wieder damit begonnen, Bücher zu veröffentlichen, unter anderem Patrick O’Brian – The Making of the Novelist (2204), den ersten Band einer Biographie seines verstorbenen Stiefvaters, den man auch hierzulande als Schöpfer der marinehistorischen Romanserie um Jack Aubrey und Stephen Maturin kennen dürfte (und wenn nicht, kennt man vielleicht zumindest Master and Commander, die aus Plotelementen von drei Romanen der Reihe zusammengesetzte Verfilmung). Seit Mitte der 90er Jahre ist der überzeugte Monarchist Tolstoy auch politisch aktiv und ist bei den englischen Parlamentswahlen mehrfach als Kandidat der UKIP in den Wahlkampf gezogen (und gescheitert).
Dessen ungeachtet bleibt The Coming of the King eine Leseempfehlung für alle, die einmal einen ganz anderen Merlin-Roman lesen wollen und eine echte inhaltliche und stilistische Herausforderung suchen. Wer hingegen einfach nur einen flott wegzulesenden Roman aus dem Artus-Mythos sucht, sollte lieber einen großen Bogen um das Werk machen.

* – im Artikel steht die englische Transliteration, die deutsche lautet Nikolai Dmitrijewitsch Tolstoi-Miloslawski und macht ein bisschen deutlicher, dass es sich bei Nikolai Tolstoy um einen entfernten Verwandten von Lew Nikolajewitsch (oder auch nur Leo) Tolstoi handelt;
** – wer an den Hintergründen zu besagtem Rechtsstreit interessiert ist, sei auf den Eintrag zu Tolstoy in der englischen bzw. deutschen Wikipedia verwiesen;

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