Zum 90. Geburtstag von Russell Hoban

Bibliotheka Phantastika erinnert an Russell Hoban, der heute 90 Jahre alt geworden wäre. Im Rahmen dieser Reihe schauen wir ja immer mal wieder über den Tellerrand hinaus, und auch wenn sich in mehreren Romanen und Erzählungen des am 04. Februar 1925 in Lansdale, Pennsylvania, geborenen Russell Conwell Hoban phantastische Elemente und Motive finden lassen, sind seine Werke eher außerhalb der engeren Genregrenzen angesiedelt. Seine ersten schriftstellerischen Gehversuche machte Hoban – nachdem er zuvor u.a. als Illustrator und Werbetexter gearbeitet hatte – Ende der 50er Jahre mit Kinderbüchern, denen er über zehn Jahre lang treu bleiben sollte. In dieser Zeit verfasste er beispielsweise eine Reihe um das Dachsmädchen Francis (Fränzi in der deutschen Ausgabe), die von seiner damaligen Frau Lillian illustriert wurde. Parallel dazu schrieb er seinen ersten längeren Roman The Mouse and His Child, bei dem es sich zwar ebenfalls um ein Kinderbuch handelt – und zwar um eines, das im englischen Sprachraum als Klassiker gilt –, der aber eigentlich viel mehr als ein Kinderbuch ist.
The Mouse and His Child von Russell HobanThe Mouse and His Child (1967; dt. Der Mausevater und sein Sohn (1979)) sind zwei Spielzeugmäuse, die sich an den Händen halten; wenn der Vater mittels des Schlüssels auf seinem Rücken aufgezogen wird, tanzt er im Kreis und schwingt dabei seinen Sohn durch die Luft. Kurz vor Weihnachten erwachen die beiden in einem Spielzeugladen – wo sie sich sehr wohlfühlen – zum Leben, finden sich bald darauf unter dem Weihnachtsbaum einer Familie wieder, verbringen das Jahr in einer dunklen Schachtel und werden zu Weihnachten wieder hervorgeholt. Das Ganze wiederholt sich mehrere Jahre – bis etwas passiert und die beiden Mäuse in der Mülltonne landen. Doch damit beginnt ihre Odyssee erst, in deren Verlauf sie auf die unterschiedlichsten Wesen treffen, allerhand Abenteuer erleben und ihnen Gutes und Böses widerfährt – Ersteres beispielsweise in Gestalt eines Landstreichers, der sie in der Mülltonne findet und notdürftig repariert (so dass sie nicht mehr im Kreis tanzen, sondern gehen können), den Mäusevater aufzieht und die beiden mit dem Rat “Seid Landstreicher” sich selbst überlässt, während für Letzteres vor allem Manny Rat (aka Manny Ratz), der König der Müllhalde, steht. Doch am schlimmsten für die beiden Mäuse ist, dass sie immer darauf angewiesen sind, dass jemand sie aufzieht … Es ist schwer, die Magie dieses in jeder Hinsicht zauberhaften Buches – in dem es auf für ein Kinderbuch erstaunliche Weise ganz schön zur Sache geht, in dem gelitten und gestorben wird – in Worte zu fassen, ohne zu viel zu verraten. Auf alle Fälle ist The Mouse and His Child wie alle guten Kinderbücher eines, das man auch als Erwachsener mit Genuss lesen kann und – von vielleicht einer Ausnahme abgesehen – Hobans zugänglichster Roman (der außerdem 1977 unter dem gleichen Titel als Zeichentrickfilm umgesetzt wurde).
Interessanterweise geht es auch in The Lion of Boaz-Jachin and Jachin-Boaz (1973; dt. Der Kartenmacher (1987)), Hobans erstem Roman für Erwachsene, um einen Vater und seinen Sohn. Jachin-Boaz ist ein Kartenmacher, der seit vielen Jahren in seiner Freizeit heimlich an einer “Meisterkarte” arbeitet, die er als wichtigstes Vermächtnis für seinen Sohn betrachtet und die diesem zeigen soll, wo alles, wonach auch immer er vielleicht zu suchen begehrt, zu finden sein wird. Doch als Boaz-Jachin die Karte zu seinem sechzehnten Geburtstag erstmals präsentiert wird, ist er von ihr bedauerlicherweise nicht sonderlich beeindruckt. Schließlich könne er mit ihrer Hilfe z.B. keinen Löwen finden (weil Löwen zum Zeitpunkt der Handlung längst ausgestorben und fast schon mythische Tiere The Lion of Boaz-Jachin and Jachin-Boaz von Russell Hobansind). Boaz-Jachins Reaktion hat Folgen, denn schon bald begibt Jachin-Boaz auf eine Reise, um einen Löwen zu finden (und stürzt unterwegs mehrfach in eine existenzielle Krise); Boaz-Jachin wiederum macht sich auf die Suche nach seinem Vater – nachdem er zuvor noch den Geist eines in Stein gehauenen Löwen befreit hat … Die phantastischen Elemente in The Lion of Boaz-Jachin and Jachin-Boaz wirken ziemlich surrealistisch, und der Roman hat vermutlich autobiografische Bezüge, doch davon abgesehen geht es nicht zuletzt um Väter und Söhne und deren Unfähigkeit, wirklich miteinander zu sprechen bzw. sich zu verstehen.
Reichlich surrealistisch geht es auch in Kleinzeit (1974; dt. Kleinzeit (1989)) zu, Hobans zweitem Roman für Erwachsene (der gleichzeitig der erste mit einem deutschen Titel bzw. einer Hauptfigur mit einem deutschen Namen ist), denn dessen Titelheld Kleinzeit ist – nur mit einem Glockenspiel und einer Ausgabe von Thukydides’ Der Peloponnesische Krieg bewaffnet – auf der Suche nach der Realität. Dummerweise schickt ihn sein Arzt aufgrund gewisser Beschwerden ins Krankenhaus … und in diesem Krankenhaus ist die Sache mit der Realität so richtig kompliziert und undurchschaubar.
Auch wenn Russell Hobans nächster Roman Turtle Diary (1975; dt. Ozeanische Gefühle (1985)) gänzlich ohne phantastische Elemente auskommt, lohnt sich ein Blick, denn er ist sein neben dem Mausevater wohl zugänglichster und außerdem ein – vor allem verglichen mit der einen oder anderen düsteren Vision, die später folgen sollte – unglaublich lebensbejahender Roman. Erzählt wird er in Form von Tagebucheinträgen von seinen beiden Hauptfiguren, als da wären: die melancholische dreiundvierzigjährige unverheiratete (und darüber alles andere als glückliche) Kinderbuchautorin Neara H., sowie der introvertierte fünfundvierzigjährige geschiedene Buchhändler William G., der vor allem darunter leidet, dass er seine Töchter nicht mehr sieht. Beide stehen unabhängig voneinander immer wieder im Londoner Zoo vor einem Aquarium, in dem drei Meeresschildkröten unablässig im Kreis schwimmen. Ebenso unabhängig voneinander kommen sie auf die Idee, die Schildkröten aus ihrem ihnen längst zu klein gewordenen Gefängnis zu befreien und ans Meer zu bringen – und nachdem sie sich kennengelernt haben, machen sie sich daran, ihre Idee in die Tat umzusetzen … In dem unter dem gleichen Titel mit Ben Kingsley und Glenda Jackson 1985 verfilmten Roman geht es auf sehr unsentimentale Weise um Einsamkeit und (manchmal selbstgebaute) Gefängnisse – und darum, dass es immer eine Möglichkeit gibt, aus diesen Gefängnissen auszubrechen, auch wenn es dazu manchmal der Hilfe von außen bedarf.
Mit Riddley Walker (1980) legte Hoban fünf Jahre später so etwas wie den ultimativen Post-Doomsday-Roman vor, und dieser Sprung sozusagen mitten ins Genre wurde folgerichtig mit dem John W. Campbell Memorial Award und dem Ditmar Award (das ist das australische Riddley Walker von Russell HobanPendant des Hugo) ausgezeichnet. Der anfangs zwölfjährige Titelheld lebt vielleicht 2000 Jahre nach einem verheerenden Atomkrieg in einer Stammesgesellschaft in Südengland, die sich vor allem mit Hundemeuten – den schlimmsten Feinden der Menschen – herumschlagen muss. Von der glorreichen Vergangenheit sind nur noch ein paar Relikte sowie Mythen und Legenden übriggeblieben, doch diese Legenden werden ebenso wie die alltäglichen Dinge in einer Sprache erzählt, die sich so vielleicht tatsächlich in 2000 Jahren aus dem uns bekannten Englischen entwickeln könnte. So originell es einerseits ist, endlich einmal eine auch auf der sprachlichen Ebene konsequent weitergedachte Vision einer postapokalyptischen Gesellschaft vorzufinden, so schwer macht es diese Sprache für Nicht-Native-Speaker, Riddley Walkers Abenteuern zu folgen. Wer allerdings eine echte Herausforderung sucht …
Pilgermann (1983) erzählt die Geschichte eines gleichnamigen deutschen Juden, der im 11. Jahrhundert kurz nach einem Stelldichein mit der Frau eines Steuereintreibers von einem Juden hassenden Mob brutal kastriert wird, und der sich daraufhin auf eine Pilgerreise nach Jerusalem begibt, begleitet von so illustren Gefährten wie dem scharfzüngigen Bruder Pförtner – einer Art Avatar des Todes –, dem kopflosen Leichnam des Steuereintreibers, mit dessen Frau Pilgermann sich vergnügt hatte, und der Sau, die seine Genitalien gefressen hat.
In The Medusa Frequency (1987; dt. Die Medusenfrequenz (1991)) geht es um den Comic-Texter und Schriftsteller Herman Orff, der nach Inspiration für seinen dritten Roman sucht, und auf dessen PC-Monitor plötzlich grünlich phosphoreszierende Buchstaben in Blockschrift auftauchen, mittels derer eine ebenso entsetzliche wie unschuldige Entität mit ihm Kontakt aufnehmen will. So richtig durcheinander gerät Orff allerdings erst, als ihm an den unmöglichsten Orten Orpheus’ Kopf erscheint und ihm immer wieder die Geschichte erzählt, wie er Eurydike für immer verloren hat.
Während Herman Orff ein Sucher war, ist Fremder Gorn, die Hauptfigur von Fremder (1996), ein Mensch mit Geheimnissen. Schließlich hat er nicht nur einige Zeit im All ohne Raumanzug überlebt, sondern ist auch das einzige wieder aufgetauchte Besatzungsmitglied der Clever Daughter, eines spurlos verschwundenen Raumfrachters. Fremders Mutter hat den “Flicker Drive” entwickelt, der der Menschheit die interstellare Raumfahrt ermöglicht – und sich umgebracht, als sie im siebten Monat mit Fremder schwanger war (nicht, ohne Anweisungen an das Krankenhaus und eine Botschaft an ihren ungeborenen Sohn zu hinterlassen). Dieses und weitere Bruchstücke aus Fremders Vergangenheit erfahren wir, während Fremder selbst gleichzeitig von Psychologen durchleuchtet wird – und schließlich in die Obhut des Supercomputers Pythia gegeben wird.
Zwar gibt es auch in den späteren Romanen Hobans noch phantastische Elemente – etwa in Amaryllis Night and Day (2001; dt. Amaryllis Tag und Traum (2007)) – doch für heute soll dies einmal genügen. Russell Hoban, der am 13. Dezember 2011 im Alter von 86 Jahren verstorben ist und im englischen Sprachraum als Kultautor gilt, hat ein teilweise eingängiges, teilweise nur schwer verständliches (und gelegentlich auch anstrengend zu lesendes) Œuvre mit einer beeindruckenden Bandbreite hinterlassen. Wer “schräge” Ideen und Geschichten sucht, wird bei ihm ebenso fündig wie diejenigen, die am liebsten Bücher lesen, bei denen man die Wärme spürt, mit der der Autor auf seine Figuren blickt – auch wenn er ihnen so manches zumutet.

Ein Kommentar zu Zum 90. Geburtstag von Russell Hoban

  1. Timpimpiri sagt:

    Hm … dass mich bei einem dieser von euch vorgestellten Autoren alle seine Romane reizen, ist mir ja noch nie passiert … vielleicht sollte ich mich aufs Rentenalter freuen? Aber im Ernst: das klingt alles nach wunderschönen und/oder wunderschön skurillen Geschichten … wobei mich Ozeanische Gefühle besonders interessieren würden.

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