Zum 60. Geburtstag von Judith Tarr

Bibliotheka Phantastika gratuliert Judith Tarr, die heute 60 Jahre alt wird. Dass sich etliche der mehr als vierzig Romane, die die am 30. Januar 1955 in Augusta, Maine, geborene Judith Tarr von 1985 bis 2010 in steter Regelmäßigkeit veröffentlicht hat, eines historischen Settings bedienen, ist nicht sonderlich überraschend – schließlich hat sie u.a. Alte und Mittelalterliche Geschichte studiert, ehe sie zu schreiben begann. Bei einigen dieser Romane handelt es sich um “echte” historische Romane, die keine oder nur wenig phantastische Elemente beinhalten, während andere auf Alternativwelten spielen, in denen Magie bekannt ist und eine wichtige Rolle spielt. Zur letztgenannten Kategorie zählt beispielsweise Tarrs Erstling The Isle of Glass (1985), der Auftaktband der Trilogie The Hound and the Falcon.
Im Mittelpunkt von The Isle of Glass steht der junge Möch Alf bzw. Alfred, der im Kloster St. Ruan lebt und dort Novizen unterrichtet. Allerdings ist Alf nicht so jung, wie er aussieht, denn er wurde vor mehr als 70 Jahren vor der Pforte des Klosters als Säugling gefunden. Und er altert nicht nur wesentlich langsamer als ein Mensch, sondern ist auch auf eine ätherische Weise schön – und er hat Heilfähigkeiten, die mit den Lehren Gottes nicht in Einklang zu bringen sind. Denn Alf ist – das wird schnell klar – ein Elf, ein Geschöpf aus dem magischen Königreich Rhiyana; Alf ist aber auch ein überzeugter, gläubiger Christ, was ihn in einen tiefen inneren Zwiespalt stürzt, denn gemäß der herrschenden christlichen Doktrin besitzen Elfen keine Seele. Trotz seiner ungelösten inneren Konflikte begibt sich Alf auf Wunsch seines Abts auf eine Reise zu Richard Löwenherz, dem König von Anglia, um ihm eine wichtige Botschaft zu überbringen. Doch die Welt jenseits der Klostermauern ist gefährlich, denn dort lauern die Hunde Gottes, eine fanatische christliche Sekte, die sich geschworen hat, alle heidnischen Elfen zu töten …
The Hounds of God von Judith TarrSo originell die Grundidee (die mehrfach zum Gegenstand theologischer Diskussionen und Erwägungen wird) auch sein mag, so fremd – um nicht zu sagen anachronistisch – dürfte der unglaublich edle, gutherzige und schöne Alf auf die heutige Fantasylesergeneration wirken. Falls man mit einer derart idealisierten Hauptfigur – und einer alles andere als unwichtigen Liebesgeschichte (das geht, denn Alf hat sein Mönchsgelübde aufgelöst) – klarkommt, kann man durchaus Spaß am überzeugend ausgearbeiteten Setting und Alfs weiteren Abenteuern haben, die ihn in den Folgebänden The Golden Horn (1985) und The Hounds of God (1986) u.a. nach Konstantinopel und Rom – und natürlich auch in seine eigentliche Heimat, das Königreich Rhiyana – führen.
The Hound and the Falcon ist auch auf Deutsch erschienen – sogar zwei Mal. Das erste Mal in den 80ern (unter dem Obertitel Die Jäger der Inquisition als Die gläserne Insel (1986), Das goldene Horn und Die Hunde Gottes (beide 1987)) und dann noch einmal in den Nullerjahren (unter dem Obertitel Die Geheimnisse von Rhiyana; in diesem Fall hieß der dritte Band Die heilige Stadt (2003)). Ein paar Jahre später ist Judith Tarr mit Alamut (1989; dt. Die Zauberin von Alamut (1991)) und The Dagger and the Cross (1991) noch einmal ins Setting von The Hound and the Falcon zurückgekehrt, dieses Mal jedoch ins Königreich Jerusalem während der Herrschaft von Balduin IV. Hier bekommt es der halbmenschliche Prinz und Kreuzritter Aidan vor allem mit der Assassine Morgiana zu tun, die genau wie er weit mehr ist, als sie zu sein scheint.
Bei dem anfangs aus den Romanen The Hall of the Mountain King (1986), The Lady of Han-Gilen (1987) und A Fall of Princes (1988) bestehenden und später mit Arrows of the Sun (1993), Spear of Heaven (1994) und Tides of Darkness (2002) erweiterten Zyklus Avaryan Rising (dessen erste drei Bände es als Der König von Han-Ianon, Elians Schwur und Der Krieg der Prinzen (alle 1990) unter dem Obertitel Der Sohn der Sonne auch nach Deutschland geschafft haben) handelt es sich um Judith Tarrs ersten Ausflug in die “richtige” bzw. Sekundärwelt-Fantasy, in dem es um dynastische Intrigen und Verwicklungen zwischen bzw. in benachbarten Reichen geht. Doch viel wichtiger als die politischen Machtkämpfe und kriegerischen Auseinandersetzungen sind die Liebesbeziehungen der Hauptfiguren – eine Tendenz, die sich auch in ihren späteren Romanen fortgesetzt hat.
Die Epona-Sequenz (White Mare’s Daughter (1998), The Shepherd Kings (1999), Lady of Horses (2000), Daughter of Lir (2001)), von der ebenfalls drei Bände als Zeit des Feuers (1999), Zeit der Pharaonen und Zeit der Götter (beide 2002) auf Deutsch erschienen sind, spielt größtenteils in vor- bzw. frühgeschichtlicher Zeit und thematisiert u.a. den Zusammenprall matriarchalischer und patriarchalischer Kulturen. Sie verdankt ihren Namen der Göttin Epona, die sich in einer weißen Stute inkarniert. Pferde spielen in Judith Tarrs späterem Werk öfters eine wichtige Rolle, und in der White Magic Trilogy (2004-06), die sie als Caitlin Brennan geschrieben hat, spielen sie sogar die Hauptrolle (was letztlich bei einer Autorin, die nebenbei Lippizaner züchtet, auch wieder nicht so überraschend ist).
Von ihren Einzelromanen, die anfangs – A Wind in Cairo, Ars Magica (beide 1989) – eher der Fantasy, danach eher dem historischen Roman zuneigen, hat es nur Lord of the Two Lands (1993) – ein in Ägypten spielender Alexander-Roman – als Der Herr der zwei Länder (1996) nach Deutschland geschafft. Recht interessant klingen die beiden Amazonen-Romane Queen of the Amazons (2004) und Bring Down the Sun (2008).
The Last Paladin von Judith TarrMit der unter dem Pseudonym Kathleen Bryan verfassten Trilogie The War of the Rose hat Judith Tarr sich – wie der deutsche Obertitel Das magische Land deutlicher verrät – noch einmal der Sekundärwelt-Fantasy angenommen. Allerdings ist die aus den Bänden The Serpent and the Rose (2007), The Golden Rose (2008) und The Last Paladin (2009) bzw. Der Orden der Rose, Das Amulett der Schlange und Die Tochter des Lichts (alle 2008) bestehende Trilogie arg generisch ausgefallen, komplett mit dem einfachen, aber über eine besondere Begabung verfügenden Bauernjungen und der unglaublich schönen, aber natürlich zugleich überaus freundlichen und bescheidenen Fürstentochter.
Nach einer 25 Jahre dauernden und wie bereits erwähnt mehr als 40 Romane umfassenden Karriere hat Judith Tarr etwa ab 2010 anscheinend unter einer Schreibblockade gelitten, die sie mit der Veröffentlichung des Jugendbuchs Living in Threes (2014) aber – wie’s aussieht – überwunden hat.

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