Forumos-Übersetzer empfehlen: Rick Yancey – Der Monstrumologe und das Drachenei

Heute gibt es wieder einen Gastbeitrag aus der Rubrik Übersetzer-Empfehlung. Die Übersetzerin Susanne Gerold ist in unserem Forum als Timpimpiri unterwegs.

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Den x-ten Band eines Mehrteilers zu übersetzen ist normalerweise eine undankbare Aufgabe. Viel Arbeit und doch immer wieder das Gefühl, nie so richtig in die Geschichte reinzukommen. Noch dazu muss man sich an die vorgegebene Nomenklatur halten und womöglich einen Sprachduktus nachahmen, der dem eigenen zuwiderläuft. Eine leichte Frustration ist also oft vorprogrammiert.
Bei der Übersetzung von “Der Monstrumologe und das Drachenei” (OT: “The Monstrumologist: The Final Descent”), dem letzten Band der Reihe “Der Monstrumologe” von Rick Yancey, war das vollkommen anders. Schon beim Aufschlagen des Originals wehte mir eine Atmosphäre entgegen, die einfach mitreißend war: Tragik in ihrer besten Form, nämlich Vergänglichkeit, Scheitern, verbunden mit innerer Wärme, mit großem Mitgefühl und dem steten Appell, dass es auch anders gehen müsse.
Was diese Autorenstimme von Anfang an versprach, hielt sie bis zum Schluss durch (wie auch in den ersten drei Bänden). Ich bin in die Übersetzung eingetaucht wie schon lange nicht mehr, denn das Schicksal des Kindes, um das es hier – erzählt aus der Perspektive eines an den Ort seiner Kindheit und frühen Jugend zurückkehrenden Erwachsenen – geht, wird mittels einer unvergleichlichen literarischen Sprache und Erzählstimme geschildert, zusätzlich vermischt mit Inhalten und Auszügen aus Dantes Inferno.
Der Monstrumologe und das Drachenei von Rick YanceyWas ich nicht ganz verstanden habe: warum das Buch im Original als Jugendbuch gilt. Die Geschichte von Will Henry, der 1888 in New York nach dem Tod seines Vaters als kleiner Junge in dessen Fußstapfen tritt und eine Art Diener und Assistent des Monstrumologen Dr. Warthrop wird, ist nun wirklich nichts für Kinderseelen. Nicht nur, weil sich etliche Horrorszenen finden und Grausamkeiten an Menschen geschildert werden, die zwar in einer Art medizinischem Kontext ablaufen, aber nichtsdestotrotz ziemlich unter die Haut gehen können. Denn Dr. Warthrops Beruf ist es, die parasitären Monster, die sich in Menschen eingeschlichen haben, zu untersuchen und zu töten – und manchmal auch zuzusehen und zu erforschen, wie sie ihren Wirt töten.
Viel schlimmer, beeindruckender, ist die Fähigkeit von Rick Yancey, den eigentlichen Horror darzustellen, der dem kleinen Will angetan wird: emotionaler Missbrauch in seiner reinsten, klarsten Form.
Es ist selten, dass jemand so plastisch emotionalen Missbrauch und damit verbunden die Verwandlung eines kleinen, lebendigen Jungen in ein Bündel aus abgespalteter Angst, Unempfindlichkeit, Einsamkeit und doch nie endender Sehnsucht nach Wärme ebenso überzeugend schildert, wie seine Flucht in ein bisschen Leben und seine gleichzeitige Abhängigkeit von demjenigen, der ihn aufgezogen hat.
Ich kenne nur einen anderen Autor, der diese Meisterleistung vollbringt, und das ist Steven Erikson. Natürlich in einem völlig anderen Stil, aber wenn ich mich an manche Szenen aus “Das Spiel der Götter” erinnere, verfügen beide Autoren über die gleiche Fähigkeit, diese tieftraurige Stimmung zu zaubern, die zugleich auch hoffnungsvoll ist, weil man spürt, dass man endlich verstanden hat, worum es bei Kindern geht, was sie wirklich brauchen, was sie zerstört, wie zerbrechlich sie sind, was es mit dem Kreislauf der Gewalt auf sich hat – auch Dr. Warthrop war einmal ein Kind –, und was passiert, wenn man die Seelen von Kindern ein ums andere Mal mit Füßen tritt.
Es ist ein Erwachsenenbuch, mit Erwachsenenthemen. Es enthält Horror der direkten Art und es enthält Entsetzen der geistigen, seelischen Art. Es geht um das Böse im Menschen, um Täteridentifikation, um die Frage, wie man sich von jemandem befreien kann, der sich mit aller Macht der eigenen Seele aufgezwängt hat und wie man – ob man – dabei die eigene Seele vor dem eigenen Bösen retten kann.
Ich kann das Buch allen empfehlen, die an solchen Themen Interesse haben oder ihnen gegenüber zumindest offen sind. Es ist natürlich gut und gewiss hilfreich, die ersten Bände auch zu lesen, aber der vierte Band ist so gestaltet, dass es tatsächlich zur Not auch anders ginge. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Will Henry an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, ein letztes Mal Dr. Warthrop trifft und sich erinnert, während er zugleich in der Gegenwart ein Geschehen beendet, das an eben jenem Ort begonnen hat.
Die Rahmenhandlung, die alle Bände umschließt (jemand bekommt vom Direktor eines Altersheims den Auftrag, die wirren handschriftlichen Aufzeichnungen eines Verstorbenen aufzuschreiben, was dann die vier Bände ergibt) endet übrigens mit einem sehr versöhnlichen, sehr schönen Schluss.
Nur selten habe ich nach der Übersetzung eines Buches das Gefühl, am liebsten immer weitermachen zu wollen, nicht genug kriegen zu können von der Sprache, den Gedanken des Autors.
Dieses Buch ist so eines.

“Aber es gibt keinen Anfang und kein Ende und
nichts dazwischen
Anfänge sind Enden
Und alle Enden sind gleich

Die Zeit ist eine Linie
aber wir sind Kreise”

2 Kommentare zu Forumos-Übersetzer empfehlen: Rick Yancey – Der Monstrumologe und das Drachenei

  1. mistkaeferl sagt:

    Nachdem ich das Buch jetzt gesehen habe: Das ist ja auch ziemlich nett gestaltet und illustriert. Ist das eigentlich speziell für die deutsche Ausgabe so?

  2. Timpimpiri sagt:

    Stimmt, es ist wirklich schön aufgemacht. Der Text war bereits veröffentlicht, als mir einfiel, dass die Aufmachung ein paar Worte verdient hätte. Schön, dass du es erwähnst, mistkaeferl.
    Und was deine Frage angeht … die kleinen Details oder Vignetten (z.B. die Instrumente) sind auch im Original vorhanden, aber die Zwischenseiten (vor den Kapiteln oder einfach so) tauchen im OR nicht auf. Das sind Zeichnungen von Jürgen Speh. Da hat sich der Verlag echt mal was ausgedacht.

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