Zum 80. Geburtstag von Wim Gijsen

Bibliotheka Phantastika erinnert an Wim Gijsen, der heute 80 Jahre alt geworden wäre. Der am 20. August 1933 in Zwolle in der Provinz Overijssel geborene Wim Gijsen wollte schon von Kindheit an Schriftsteller werden und hatte neben journalistischen Arbeiten u.a. bereits Kinder- und Sachbücher (über New-Age-Themen wie Meditation, Yoga oder das Leben nach dem Tod) veröffentlicht, ehe er sich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts der SF und Fantasy zuwandte und rasch einer der bekanntesten niederländischen Autoren dieser Genres wurde bzw. in den 80ern vermutlich sogar der bekannteste und erfolgreichste war. Und er zählt zur kleinen Riege der Genre-Autoren seines Heimatlands, die es zu Übersetzungen ins Deutsche gebracht haben.
Gijsens Erstling innerhalb des Genres war De Eersten van Rissan (1980), der Auftakt eines Zweiteilers, der ein Jahr später mit De Koningen van Weleer abgeschlossen wurde. Rissan (unter diesem Titel auch als Sammelband (1987)) erzählt die Geschichte von Hirdan, dem Sohn eines einfachen Handwerkers, der in dem von einer diktatorischen Priesterkaste beherrschten Stadtstaat Lhissey durch besondere Umstände zum Priesterschüler wird, sich aber – angewidert vom Kastendenken und den Methoden der Priesterschaft – schon bald mit Rhes zusammentut, einem geheimnisvollen Fremden, der sich als Archäologe für den alten, pyramidenförmigen Großen Tempel von Lhissey interessiert. Viel mehr interessieren Rhes – der von der Erde stammt – allerdings Die Ersten von Rissan, die auch als Die Könige der Vorzeit (so die Titel der deutschen Ausgaben (beide 1987)) bekannt sind. Denn Rhes stammt von der Erde, und er hofft, auf dieser vergessenen und auf eine mittelalterliche Kulturstufe zurückgefallenen Kolonialwelt wichtige Hinweise auf eine vorher existierende nichtmenschliche Zivilisation zu entdecken. Bei der sich anschließenden gemeinsamen Reise durch die Welt lernen die beiden Land und Leute kennen, und Hirdan macht eine erstaunliche Entwicklung durch. Und am Ende wird natürlich auch das Rätsel der Ersten gelöst.
Iskander der Traumdieb von Wim GijsenWährend es sich beim Rissan-Zweiteiler noch um einen SF-Roman mit Fantasy-Elementen handelt – die vergessene Kolonie ist ja fast ein Standardmotiv der planetary romance – stehen beim Iskander-Zweiteiler eindeutig die Fantasy-Elemente im Vordergrund. In Iskander de Dromendief (1982; dt. Iskander der Traumdieb (1988)) machen wir mit dem nicht sonderlich begabten Magier Iskander Bekanntschaft, der zusammen mit seinem Freund und Diener Okke durch das Inselreich Albe zieht und sich mit einfachen Tricks seinen Lebensunterhalt verdient. Eine richtige Begabung hat Iskander allerdings: er kann in die Träume anderer Menschen eindringen und sie verändern. Und diese Begabung sorgt dann auch dafür, dass sein lockeres, leichtes Leben sich eines Tages schlagartig verändert. Denn Prinz Hamlet-Alexander, der Thronfolger von Albe, wird von Alpträumen geplagt, und die Hohepriesterin Merle bittet Iskander, sich der Träume des Prinzen einmal anzunehmen. Was der Magier tut – nur um sich in der Traumlandschaft Hamlet-Alexanders plötzlich dem Wolf gegenüberzusehen, einem mächtigen Magier, der das Inselreich Albe erobern will, und dem dazu nicht nur alle Mittel recht sind, sondern der auch über sie verfügt. Verglichen mit den Möglichkeiten und Fähigkeiten des Wolfs – der über einen ganzen Kontinent herrscht und bereits eine Flotte nach Vale, dem spirituellen Zentrum Albes ausgeschickt hat – ist Iskander kaum mehr als ein kleines Licht; doch zum einen verfügt er über durchaus mächtige Verbündete, zum anderen besitzt er sehr wohl etwas, das ihm in diesem Konflikt helfen kann, beispielsweise einen hellwachen Verstand. Den – und nicht nur den – braucht er allerdings auch dringend, wenn er sich in Het Huis van de Wolf (1983; dt. Das Haus des Wolfs (1988)) daran macht, auf dessen eigenem Territorium gegen den Wolf vorzugehen.
In der aus den Bänden Keerkringen, Bedahinne (beide 1985) und Lure (1986) bestehenden Deirdre-Trilogie erzählt Wim Gijsen die Geschichte der titelgebenden Heldin, die in einer mittelalterlichen, von Männern beherrschten Gesellschaft zunächst einmal auf der untersten sozialen Stufe ihrer Welt landet, als sie aufgrund eines harmlosen Vergehens von einer Priesterin zu einer Ausgestoßenen wird. Doch Deirdre weiß die Fähigkeiten, die sie ihrer Ausbildung im Kloster verdankt, zu nutzen und wird eine erfolgreiche Händlerin. Dem Aufstieg auf der sozialen Leiter folgt allerdings bald wieder ein tiefer Fall, da ihr Erfolg bei der männlichen Konkurrenz ebenso ungern gesehen wird wie ihre Weigerung, sich mit einem der Kaufleute zu vermählen. Doch auch ihre Zeit als Tempelprostituierte geht vorüber, als sie von der Äbtissin eines weit entfernten Deirdre: Bidahinne von Wim GijsenWüstenklosters freigekauft wird. Die Reise über das Lavendelmeer und weiter durch die Wüste zum besagten Wüstenkloster bildet den Auftakt zu dem, was sich schließlich als Deirdres wahre Bestimmung erweisen wird: die zerstrittenen und miteinander tief verfeindeten Länder rings um das Lavendelmeer miteinander zu versöhnen.
In der Deirdre-Trilogie – auf Deutsch als Wendekreise, Die Sandrose und Im Reich der Zauberinnen (alle 1999) erschienen – entwirft Wim Gijsen eine nicht unbedingt originelle, aber glaubwürdig geschilderte Welt, in deren Mittelpunkt er mit Deirdre eine – in Anbetracht des Erscheinungstermins der Originalausgabe – erstaunlich selbstbewusste und starke Frau stellt, die nicht all ihre Fähigkeiten verliert, wenn ein gutaussehender Mann auftaucht, sondern sich im Gegenteil eine gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung gönnt. Dass er darüber hinaus den Rahmen einer Fantasy-Trilogie nutzt, um Kritik an so manchen zeitgenössischen Entwicklungen zu üben, ohne dass diese Kritik aufgesetzt wirkt oder mit der eigentlichen Handlung kollidiert, ist ein weiterer Pluspunkt.
Es ist bedauerlich, dass die weiteren Werke Gijsens – v.a. die beiden Einzelromane De Rook van duizend Vuren (1984) und De Droemenwever (1988) und die aus den Bänden Een Kring van Steenen (1989), Het groene Eiland (1990) und De Ceders van Urtan (1991) bestehende Merisse-Trilogie – nicht mehr ins Deutsche übersetzt wurden. Noch weitaus bedauerlicher ist allerdings, dass Wim Gijsen bereits am 20. Oktober 1990 im Alter von gerade einmal 57 Jahren verstorben ist (den letzten Band der Merisse-Trilogie musste sein Kollege Peter Schaap beenden), denn seine auf Deutsch vorliegenden Romane zeigen ihn als einen Autor, der sich inhaltlich und stilistisch deutlich vom Gros der angloamerikanischen Fantayliteratur unterscheidet – und Vielfalt ist etwas, das man eigentlich immer und in jedem Genre brauchen kann.

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