Zum 85. Geburtstag von Angélica Gorodischer

Bibliotheka Phantastika gratuliert Angélica Gorodischer, die heute 85 Jahre alt wird. Die am 28. Juli 1928 in Buenos Aires geborene Angélica Gorodischer, die im Alter von acht Jahren nach Rosario in der zentralargentinischen Provinz Santa Fe gezogen ist und seither dort lebt, hat sich in ihrem Heimatland und weit über dessen Grenzen hinaus mit Krimis und in den verschiedenen Subgenres der phantastischen Literatur angesiedelten Erzählungen und Romanen einen Namen gemacht und gilt heute im Bereich dieser Genres als eine der wichtigsten lateinamerikanischen Schriftstellerinnen. Darüber hinaus hat sie mehr als 350 Vorträge – vor allem über phantastische Literatur und das Schreiben von Frauen – im In- und Ausland gehalten und 1998, 2000 und 2002 in ihrer Heimatstadt Rosario drei bedeutende Kongresse über das literarische Schaffen argentinischer Schriftstellerinnen organisiert.
Kalpa imperial von Angélica GorodischerAls ihr wichtigstes Werk im Bereich der Fantasy gilt Kalpa imperial, eine Sammlung von Erzählungen, die zunächst in zwei Bänden – Libro I: La casa del Poder (1983) und Libro II: El imperio más vasto (1984) – in Argentinien erschienen ist, kurz darauf aber auch in einem Band (als Kalpa imperial (1984)) in Spanien veröffentlicht und seither mehrfach neu aufgelegt wurde. Interessanterweise taucht Kalpa imperial in Angélica Gorodischers Bibliographie häufig als Roman auf, doch der Inhalt besteht aus elf nur durch den Hintergrund und die Stimme des Erzählers zusammengehaltenen Stories, die verschiedene Episoden aus der Geschichte des besagten Imperiums bzw. Reiches erzählen und sich häufig um dessen mal gute, mal schlechte, mal schlicht verrückte Herrscher und Herrscherinnen drehen. Da geht es um Reichsgründer und Usurpatoren, um Kronprinzen, die sich entscheiden müssen, um Generäle und Deserteure, für die das ebenfalls gilt, und manchmal auch um Städte und Karawanen. Außerdem spielt der Erzähler selbst gelegentlich eine wichtige Rolle. Manche dieser Geschichten sind ziemlich witzig, manche tragisch und manche auch brutal, und viele transportieren eine leise, unaufdringlich vermittelte Botschaft. Magie hingegen gibt es kaum. Was das angeht, bewegt sich Kalpa imperial eher in der Tradition des Magischen Realismus. Und all das zusammen ergibt eine Mischung, die über einen schwer zu beschreibenden Reiz verfügt.
Ein anderes, ebenfalls häufig gelobtes Werk Angélica Gorodischers ist Trafalgar (1979), ein Sammelband mit SF-Erzählungen.
Für deutschsprachige Leser und Leserinnen war und ist es allerdings nicht einfach, sich einen Einblick in das Oeuvre dieser Autorin zu verschaffen. Viele Jahre lang gab es von ihr auf Deutsch nur einen einen einzigen Roman – einen Krimi mit dem Titel Eine Vase aus Alabaster (1992; Originaltitel: Floreros de alabastro, alfombras de Bokhara (1985)) –, und erst 2010 ist mit Im Schatten des Jaguars ein Sammelband mit phantastischen Erzählungen hinzugekommen.
Die englischsprachige Welt ist da ein bisschen besser dran, denn dort ist Kalpa imperial – übersetzt von niemand Geringerem als Ursula K. Le Guin – im Jahr 2003 als Kalpa Imperial: The Greatest Empire That Never Was auf den Markt gekommen. Es ist kaum anzunehmen, dass Angélica Gorodischer auch ohne diese Veröffentlichung 2011 mit dem World Fantasy Award für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden wäre. Vor wenigen Wochen ist zudem eine Übersetzung von Trafalgar, des bereits erwähnten Sammelbands mit SF-Erzählungen unter eben diesem Titel in den USA erschienen. Es wäre zu hoffen, dass die englischsprachigen Verlage noch weitere Titel von Angélica Gorodischer veröffentlichen, denn dann hätten die nicht-spanischsprachigen Leser und Leserinnen eine Option mehr, um zumindest Teile des Werks dieser in der spanischsprachigen Welt so bedeutenden und angesehenen Autorin kennenzulernen.

4 Kommentare zu Zum 85. Geburtstag von Angélica Gorodischer

  1. Raskolnik sagt:

    Oh Mann, da merke ich doch wieder einmal, wie beschränkt mein eigener Blickwinkel auf die Fantasy doch in Wirklichkeit ist. Außerhalb der englisch- und deutschsprachigen Sphäre kenne ich mich nämlich so gar nicht aus. Nicht einmal, was die Namen der Autorinnen & Autoren angeht. Aber mit deiner Hilfe kann ich meinen Horizont da ja vielleicht ein bisschen erweitern. Ein Abstecher nach Lateinamerika erscheint mir jedenfalls immer verführerischer, auch jenseits der bekannten Heroen des Magischen Realismus. 🙂

  2. Anubis sagt:

    Tja, bei Gorodischer gelangt man auf der Suche nach Übersetzungen ins Deutsche noch viel schneller ans Ende als bei Dunsany. Außer Eine Vase aus Alabaster und Im Schatten des Jaguars gibt es noch Die Nacht des Kometen, eine Anthologie argentinischer Gegenwartsautorinnen, die eine Kurzgeschichte von Gorodischer enthält (Genre: Alternate History). Auf mehr bin ich nicht gestoßen.

    Eine Vase aus Alabaster ist übrigens ein sehr unterhaltsamer Roman, der schön die Schwebe hält zwischen Krimi und Spy-Thriller (nicht in dem Sinne, dass sowohl Detektivinnen als auch Spione vorkämen, sondern dass man beim Lesen tatsächlich nicht so genau weiß, ob man sich in einer Kriminal- oder einer Spionagegeschichte befindet).

  3. gero sagt:

    @ Anubis:

    Wikipedia nennt noch “Schlangenmund” in der Anthologie Mohnblumen auf schwarzem Filz. Autorinnen aus vier Kontinenten, aber da ich diese Antho genausowenig wie die von dir genannte gesehen habe und daher nicht wusste, wie die Geschichten einzuordnen sind (oder auch nur, wie lang sie sind), habe ich sie weggelassen. Die Zahl der von ihr übersetzten Werke bleibt so oder so kläglich. (Was ich unter dem Aspekt, dass die lateinamerikanische Literatur generell auf dem deutschen Buchmarkt zeitweise ziemlich präsent war, dann schon irgendwie merkwürdig finde.)

    @ Raskolnik:

    “Auskennen” tue ich mich auch nur in der englisch- und der deutschsprachigen Fantasy, und auch da gibt’s durchaus noch mir bewusste weiße Flecken & Lücken – und gelegentlich die eine oder andere Überraschung.

    Kalpa Imperial kenne ich auch nur in der Übersetzung von Ursula K. Le Guin, denn mein Spanisch war zwar vor ~ zehn Jahren gut genug, um den Inhalt eines Tageszeitungsartikels erfassen bzw. einem nicht allzu anspruchsvollen spanischen (TV-)Film folgen zu können, aber fürs genüssliche Lesen belletristischer Werke hat’s auch damals nicht gereicht – und seither habe ich es praktisch nie mehr richtig benutzt bzw. letztes Jahr im Urlaub gemerkt, dass da nicht mehr viel übrig geblieben ist.

    Ich bedaure das sehr und hatte mir eigentlich schon letztes Jahr vorgenommen, nicht nur meine angestaubten Französischkenntnisse, sondern vor allem mein – momentan sehr rudimentäres – Spanisch wieder aufzupolieren, weil es in beiden Sprachen ein paar Sachen gibt, die mich sehr interessieren. Aber wie das halt so ist mit dem willigen Geist & dem schwachen Fleisch. 😉

    Schade ist natürlich auch, dass die Anglosphere im Bereich SF & F doch sehr stark um sich selbst kreist (was man sehr schön an den alten World’s Best SF Sammelbänden feststellen konnten, denn da bestand die Welt im Prinzip aus den USA und Großbritannien) und recht wenig ins Englische übersetzt wird, so dass einem diese sprachliche Brücke dann auch verwehrt bleibt.

    Aus diesem Grund habe ich es auch sehr bedauert, dass aufgrund der vielen Geburtstage, die wir im Juli hatten, der von Brian M. Stableford (am 25.) auf der Strecke geblieben ist, denn Stableford ist einer der wenigen englischsprachigen Autoren, Herausgeber und Kritiker, der sich nicht nur um die Wurzeln der englischsprachigen SF/Fantasy/Phantastik gekümmert hat (was per se schon anerkennungswürdig genug ist), sondern seit etwa der Jahrtausendwende jede Menge frühe französische SF/Fantasy/Phantastik sowie Dekadenzliteratur ins Englische übersetzt, so dass man (aka ich) da die eine oder andere Lücke schließen kann, ohne auf mein – wie bereits erwähnt angestaubtes – Französisch angewiesen zu sein.

    Äh … wo wollte ich hin? Ah, ja – die Dominanz der Anglosphere im Bereich der SF/Fantasy/Phantastik stimmt mich nicht nur froh. Allein schon aus diesem Grund freue ich mich immer über Entdeckungen aus anderen Sprachen. Und wenn sie dann noch richtig gut sind …

  4. Raskolnik sagt:

    Ich hoffe, da ist jetzt nicht der Eindruck entstanden, ich würde behaupten wollen, mich in englisch- und deutschsprachiger Fantasy tatsächlich “auszukennen”. Das wäre eine faustdicke Lüge meinerseits. Bloß außerhalb dieser Sphäre sieht’s halt ganz duster aus. Allerdings wäre ich bei irgendwelchen Streifzügen in die Welt jenseits der Anglosphere stets auf Übersetzungen angewiesen. Sieht man vom Englischen einmal ab, so beschränken sich meine Fremdsprachenkenntnisse auf einige Brocken Russisch und Französich, die aufgrund mangelnder Nutzung von Jahr zu Jahr immer weiter zusammenschmelzen.

    Ich habe mir gerade mal die Liste mit Übersetzungen von Stableford angeschaut. Die ist nicht nur beeindruckend lang, sondern klingt in der Tat ganz schön verführerisch. Die Namen der Autoren freilich sagen mir größtenteils nichts, aber alles, was irgendwie nach Décadence riecht, lässt mir sofort das Wasser im Munde zusammenlaufen.

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