Kurz, aber gut (1)

Kurzgeschichten können Keimzellen von Romanen sein, oder etwas völlig anderes als Romane, ein erster Ort zum Austoben und Veröffentlichen für Autoren, und für manche sind sie auch langfristig die Form, in der sie am besten glänzen können (man denke an Stephen King oder Neil Gaiman). Bei den großen Publikumsverlagen finden phantastische Kurzgeschichten allerdings  von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht statt, und das, obwohl sie eigentlich hervorragend zur angeblich verkürzten Aufmerksamkeitsspanne der modernen Leserschaft passen sollten.
Es gab und gibt zwar Versuche, auch in Deutschland Magazine mit einem Fokus auf Kurzgeschichten einzuführen (z.B. die Pandora), und kleine Verlage, Zines und Internetseiten bieten eine gewisse Plattform dafür; eine große Rolle spielen sie bislang in der Fantasy-Rezeption allerdings nicht.

Da in unserem eab Kurzgeschichten durchaus geschätzt werden, wollen wir euch in nächster Zeit immer wieder Hinweise auf interessante, lesenswerte Geschichten geben. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Phantastik- und SF-Kurzgeschichten, denn die klassische Fantasy ist in der kurzen Form häufig nicht stark vertreten und noch seltener gelungen.
Wir wünschen euch viel Spaß und hoffen, euch zur ein oder anderen Entdeckung verhelfen zu können!

1. Ted Chiang: Liking What You See: A Documentary
Ted Chiangs Erzählung spielt in der ferneren Zukunft, wo es mittels ungefährlicher Manipulation des Gehirns möglich ist, Diskriminierung aufgrund des Aussehens “abzuschalten”, indem die Assoziation eines Gesichtes mit Schönheit oder Hässlichkeit verhindert wird. Oder zumindest dreht sich die fiktive Dokumentation darum, ob dieses Ziel mit Hilfe eines technischen Eingriffs erreicht werden kann (oder sollte) und wie die Menschen darauf reagieren. Schauplatz der Doku ist ein Campus, auf dem diese Manipulation eingeführt werden soll, und verblüfft mit der Vielfalt an Meinungen, Argumentationen und Assoziationen, die zu diesem Thema vorgebracht werden, manche klischeehaft, manche überraschend und radikal, viele sehr persönlich und alle bringen einen zum Nachdenken. Man sieht sich bald hineingezogen in diesen Konflikt zwischen Freiheit und Diskriminierung, Befreiung und Unterdrückung. Neben dieser philosophischen Ebene klingen auch ganz konkrete politische und wirtschaftliche Aspekte an und in den fiktiven Interviews und Nachrichtentexten entfalten sich einige Narrative, die für einen Spannungsbogen sorgen. (Fremdling)
In: Chiang, Ted: Stories of Your Life and Others. Tor Books 2004, S. 283-324.
Eine deutsche Übersetzung ist in Pandora 2. Das Magazin für internationale Science Fiction & Fantasy zu finden.

2. David Gerrold: Report from the Near Future: Crystallization
Um die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben, zunächst eine kleine Info über den Autor: David Gerrold hat die Tribbles-Folge für Star Trek geschrieben. Noch Fragen?
In Crystallization macht er allerdings ernst – wir verfolgen aus einer nüchternen nachträglichen Beobachterposition eine Art “end of the world as we know it”, das sich im Kollaps des Verkehrsnetzes von Los Angeles anbahnt: Der Verkehrsfluss kristallisiert aus. Nichtige Ursachen führen zu immer größeren Wirkungen, erst im Nachhinein, im vorliegenden Bericht, kann nachvollzogen werden, was womöglich schief gelaufen ist. Während der distanzierte, beinahe dokumentarische Stil der Geschichte, in dem der Autor besonders zu Beginn viele – dem LA-Fremden weitgehend unbekannte – Straßennamen abspult, nicht sonderlich ins Geschehen hineinzieht, sind es die katastrophalen Abläufe und ihre Unaufhaltsamkeit, die ihre Faszination ausmachen.
Crystallization zeigt die Anfälligkeit unserer vielfach ineinander verzahnten Systeme (und das Verkehrssystem kann man symbolisch sehen, auch wenn Gerrold die Kritik am Auto-Wahn durchaus ein Anliegen ist), die vor dem Hintergrund von Fortschrittglauben und Machbarkeitsphantasien vielleicht lächerlich wirken, aber bei Katastrophen wie Fukushima schmerzlich real werden. (mistkaeferl)
In: Savile, Steven/Konthis, Alethea (Hgg.): Elemental. The Tsunami Relief Anthology, Tor Books 2006, S. 19-35; 2011 als eBook: Crystallization

3. Terry Pratchett: Troll Bridge
Und es gibt sie doch, die Klassische-Fantasy-Kurzgeschichte. Oder zumindest was Terry Pratchett daraus macht. Aber hey, es gibt Trolle und einen Barbaren, das ist doch zumindest etwas, oder?
Die Handlung ist typisch Sword-and-Sorcery: Ein einsamer Held zieht, tapfer den Elementen trotzend, seiner letzten großen Aufgabe entgegen, nämlich einen Troll im heldenhaften Zweikampf zu besiegen.
Natürlich driftet dieses Grundgerüst in Pratchetts Händen schnell ins Absurde ab: Cohen der Barbar, der Held, hat Rücken, sein Pferd wäre viel lieber in wärmeren Gefilden und der Troll leidet unter seiner nörgelnden Ehefrau.
Doch was für mich das gewisse Etwas dieser Geschichte ausmacht ist, dass es Pratchett nicht, wie in seinen frühen Romanen, bei einer reinen Parodie belässt, sondern der Geschichte auch eine gewisse melancholische Note verleiht. Hier treffen sich zwei Angehörige einer untergehenden Welt: die alten düsteren Wälder aus Cohens Jugend müssen Ackerland weichen, die jungen Trolle ziehen lieber in die Stadt, anstatt wie ihre Väter unter Brücken zu leben und auch Frau Troll liegt ihrem Mann in den Ohren, er solle doch lieber im Sägewerk seines Schwagers arbeiten.
“What’s wrong with being a troll under a bridge?” he said. “I was brought up to be a troll under a bridge. I want young Scree to be a troll under a bridge after I’m gone. What’s wrong with that? You’ve got to have trolls under bridges. Otherwise, what’s it all about? What’s it all for?” (maschine)
Zuerst erschienen in: Greenberg, Martin H. (Hrsg.): After the King. Stories In Honour of J.R.R. Tolkien, Tor Books 1991.
Deutsch als Troll Dich in: Andersson, Melissa (Hrsg.): Das große Lesebuch der Fantasy, Goldmann 1995. (In anderen Anthologien auch als Die Trollbrücke)

2 Kommentare zu Kurz, aber gut (1)

  1. Elric sagt:

    Also der Pratchett klingt doch sehr lustig! 😀

    Warum kommen Kurzgeschichten in der Fantasy nicht raus? Ich glaube das Problem liegt eher daran, dass die meisten Bücher eben recht dick sind. Da denken sich möglicherweise einige Verantwortliche: Hey, die Fantasy-Leute wollen dicke Bücher und lange Geschichten (Rad der Zeit…), da kommt eine Kurzgeschichte sicher nicht so gut an. Lassen wir das mal lieber…
    Könnte ich mir jedenfalls vorstellen! *nixweiss*

    Ansonsten möchte ich kurz zum Artikel sagen: Gaiman kann sehr gute Bücher schreiben! Wenn jetzt die Kurzgeschichten (die einzige von ihm hat mir damals nicht gefallen) deutlich besser sein sollen… Huiuiuiui! 😀

  2. mistkaeferl sagt:

    In Sachen Gaiman geht es mir so, dass ich seine Romane zwar von den Ideen her genial finde, die Plots auf mich allerdings meist suboptimal wirken (eben als wären sie eher für eine Kurzgeschichte gut als für einen langen Roman … da ist meist irgendwann die Luft raus). Ich mag seine Romane zwar auch, aber richtig begeistern konnten mich vor allem Gaimans Kurzgeschichten.
    Tja, dann weiß ich ja nun, was ich für den nächsten Teil dieser Blog-Reihe für eine Kurzgeschichte heraussuchen muss. 😀

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